Keine große Affäre
Husten, Stöhnen oder Zappeln rannte sie zu Anouska. Wenn sie
keinen Mucks machte, geriet sie erst recht in Panik und stürzte zu ihr, um
nachzusehen, ob sie noch atmete. Wenn Lia nachts im Bett lag, wurde sie von
schrecklichen Horrorvorstellungen gequält, und wenn sie endlich einschlief, hatte
sie furchtbare Alpträume, die mit Anouskas Aufwachen verschmolzen, und dann
stürzte sie zu ihr, zitternd vor Angst und noch halb im Schlaf. Schließlich
legte sie eine Matratze neben das Kinderbett.
Doch mit jedem Tag wurde es etwas
einfacher, dachte Lia und starrte durch die blaßrosa Blüten zum Himmel hinauf.
Wenn man einen Tag hinter sich hatte, wußte man wenigstens, daß man einen Tag
überstehen konnte, und nach einer Woche stellte man fest, daß man eine Woche
überstehen konnte. Nach zwei Wochen hatte man seinen Tagesablauf dann so
abgeändert, daß man besser zurechtkam, und nach dreien konnte man sich fast die
optimistische Einschätzung erlauben, daß Anouska ihren ersten Geburtstag
erleben würde. Und wenn sie ein Jahr alt würde, bestand die Chance, daß sie
zwei würde, und so weiter. Mit jedem Tag gewann man mehr Zuversicht. Es war
zwar nicht das Leben, das man sich vorgestellt hatte, aber es war so etwas
ähnliches. Wenigstens lebte man überhaupt und fand Freude an Kleinigkeiten. Das
leuchtende, zarte Rosa der Apfelblüten, das sich gegen das Blau des Himmels
abhob, der Duft von frischgemähtem Gras, das waren Dinge, die einem früher gar
nicht aufgefallen waren. Nichts ging an einem vorbei wie zu der Zeit, als man
dachte, das Leben würde ewig dauern.
»Ich habe dir eine Tasse Tee gemacht.«
Plötzlich weckte sie Neils Stimme. Sie
war eingeschlafen. Schnell setzte sie sich auf, und ihr Blick schoß zum leeren
Kinderwagen.
»Ist schon okay. Ich habe sie hier,
schau...«
Sie schirmte die Augen mit der Hand
gegen die Sonne ab und sah ihr Baby auf Neils Hüfte sitzen und ihr zuwinken.
»Hallo, mein Liebling«, sagte Lia zu
Annie. Dann nahm sie den Tee und bedankte sich bei Neil.
Sie hatten zu einer Art Koexistenz
gefunden. Neil ging zur Arbeit und kam nach Unterrichtsende sofort nach Hause.
Es nahm ein wenig den Druck von ihr, wenn noch jemand im Haus war. Sie mußte
zugeben, daß er im Umgang mit Anouska inzwischen sehr gut war. Wenn es warm
genug war, ging er spätnachmittags mit ihr spazieren, oder er sprach einfach
sanft mit ihr und las ihr aus Büchern vor.
An seiner Schule wurde endlich die
lang erwartete, vielgefürchtete Ofsted-Inspektion durchgeführt, und der
Fachbereich Sport wurde lobend erwähnt. Also hatten sich all die abendlichen
Überstunden gelohnt, die er zur Vorbereitung gebraucht hatte. Wenn es das
gewesen war, was er getan hatte. Lia wußte es nicht, fragte nicht und war
überrascht, wie wenig es sie interessierte. Anouskas Gesundheit schien jede
einzelne Zelle ihres Gehirns in Anspruch zu nehmen. Manchmal zwang sie sich
dazu, sich Neil mit einer anderen Frau vorzustellen oder sogar mit einem Mann,
und versuchte mit aller Kraft, etwas zu empfinden. Aber sie konnte es nicht. Im
Vergleich zu Anouskas Leben war eine Affäre nichts.
Sex spielte in ihrer Beziehung keine
Rolle mehr. Selbst wenn er keine Affäre gehabt hätte, konnte sie sich nicht
vorstellen, wie sie die innere Ruhe dafür finden sollten. Die wenigen Male, an
denen er versucht hatte, sie zu umarmen, hatte sie sich von ihm abgewandt. Sie
war entschlossen, jede Komplikation von vornherein auszuschließen. Sie wollte
nicht, daß Gefühle ihre Sorge um Anouska beeinträchtigten. Ein- oder zweimal
war ihr der Schmerz in seinen Augen aufgefallen, und sie hatte sich schuldig
gefühlt. Vielleicht hatte er gar nichts getan. Möglicherweise gab es doch eine
vollkommen unschuldige Erklärung für seinen geheimen Ausflug nach Paris. Aber
wenn es so wäre, erinnerte sie sich dann, hätte er es ihr sicher gesagt. Sein
Schweigen bestätigte seine Schuld nur.
Tief in ihrem Herzen wußte sie, daß es
für zwei Menschen unmöglich war, ohne wirklichen Kontakt längere Zeit
zusammenzuleben, doch im Moment genügte es, einfach nur jeden einzelnen Tag
hinter sich zu bringen.
»Heute morgen sind die Tickets
gekommen«, informierte sie Neil, als sie ihm ins Haus folgte, um das Essen
vorzubereiten.
»Was für Tickets?«
»Die Tickets für unseren Urlaub«,
sagte sie zu ihm. »In der letzten Maiwoche...«
»Wollen wir immer noch fahren?« fragte
er eifrig. Er verspürte einen Funken Hoffnung, daß sie ihm vielleicht vergab.
»Ich weiß
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