Keine große Affäre
wußte, daß er nicht
beim Fußballspiel war, weil Bill, sein Stellvertreter im Fachbereich Sport,
angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, daß die Mannschaft das Spiel nach
Verlängerung mit 3:2 gewonnen hatte. Sie waren jetzt Tabellenführer, hatte er
Lia aufgeregt erklärt, und sie darum gebeten, es Neil auszurichten, wenn er
zurückkam. Sie war sicher, daß Neil gesagt hatte, an diesem Abend würde er die
Mannschaft betreuen, aber wahrscheinlich hatte sie das falsch verstanden,
dachte Lia und starrte auf den Hörer, als Bill auflegte. Er war wahrscheinlich
in den Sportclub gegangen oder einen trinken mit einem Kollegen, aber es war
komisch, daß er nicht angerufen hatte, um Bescheid zu sagen. Vielleicht machte
er mit dem Motorrad eine Spritztour. Das tat er oft, wenn er einen klaren Kopf
bekommen wollte. Wenn ihn etwas beunruhigte, hatte er das Verlangen, allein
damit fertigzuwerden. Sie dagegen mußte dann mit jemandem sprechen.
In den letzten Wochen hatte sie sich
sehr nach einer Freundin gesehnt, mit der sie reden konnte. Sie hatte überlegt,
ob sie Ginger ihre Ängste anvertrauen sollte, aber sie spürte, daß Ginger Neil
nicht mochte. Das würde sie voreingenommen machen, und darauf konnte sie
verzichten. Schließlich hatte sie Alison davon erzählt, aber das hatte
überhaupt nichts gebracht. Immer wenn man dachte, man sei ihr nähergekommen,
schien sie auszuweichen, so als wäre ihr die Vertrautheit unangenehm. Ihr war
einiges klargeworden, als sie ihre Mutter kennengelernt hatte. Eine typische
Middle-Class-Torywählerin, die ihre Kostüme bei Jäger kaufte und überzeugt
davon war, daß alles mit einem Louis-Vuitton-Schriftzug Stil hatte. Sie hatte
Lia von Kopf bis Fuß gemustert und blitzschnell überlegt, ob sie eine geeignete
Lunchbegleiterin für ihre Tochter war. Noch nie war sich Lia ihrer abgewetzten
Halbstiefel oder der Karottenpüreespritzer auf Neils weitem Arran-Pullover, den
sie über Leggings trug, so bewußt gewesen.
Wo war Neil? Es war kalt draußen. Auf
der Wetterkarte prangten drei riesige Buchstaben über Südostengland. EIS. Es
war gefährlich, auf gefrorenen Straßen herumzurasen. Oh Gott, vielleicht hatte
er einen Unfall gehabt! Wieder sah sie auf die Uhr. Halb elf. Zu früh, um die
Polizei anzurufen. Sie würden sie für total neurotisch halten. Sie stellte sich
zwei uniformierte Polizisten am Schreibtisch vor. Das arme Schwein darf nachts
nicht mal allein raus, würden sie sagen, nachdem sie sie abgewimmelt hätten.
Die dumme Kuh. Vielleicht ist Männe irgendwo, wo er nicht sein sollte. Und wer
könnte ihm das verübeln? Nein. Lia versuchte dem Gedanken Einhalt zu gebieten,
der sich langsam in ihrem Gehirn breitmachte. Er konnte doch nicht bei einer
anderen sein? So schlimm stand es zwischen ihnen doch auch wieder nicht. Dafür
gäbe es doch Anzeichen. Und trotzdem flüsterte ein anderer Teil in ihr: Es
würde soviel erklären. Seine Unfähigkeit, sich auf das Kind einzulassen, seine
schlechte Laune, seine Überreaktion, als ihr richtiger Name herausgekommen war.
Es war fast so, als hätte er nach einem Vorwand gesucht, um gemein zu ihr zu
sein. Männer, die sich schuldig fühlten, ließen das oft an ihren Partnerinnen
aus und versuchten, ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wenn er eine
andere hatte, wäre das eine Erklärung dafür, warum sie seit kurz vor Anouskas
Geburt das Gefühl hatte, daß er ihr einen kleinen Teil von sich vorenthielt,
ihn vor ihr weggesperrt hatte, so daß sie ihn nicht mehr erreichen konnte.
Wenn er zurückkam, würde sie ihn
fragen, wo er gewesen war, beschloß sie, als das Klatschklatschklatsch Wusch
des Feuerwerkfinales durch ihre Straße hallte. Sie haßte diese Ungewißheit.
Aber das war nur ein einziger Abend, sagte der andere Teil in ihr. Wie weit war
es zwischen ihnen gekommen, daß sie ihm bereits mißtraute, wenn er mal ein paar
Stunden wegging, ohne ihr zu sagen, wohin? Es war viel wahrscheinlicher, daß er
einen Unfall gehabt hatte. Sie stellte sich vor, wie er am Rande einer Autobahn
neben einem Schrotthaufen in einer Blutlache lag. Sie erschauderte. Sie
beschloß, noch bis Mitternacht zu warten. Dann wäre es nicht mehr übertrieben,
die Polizei anzurufen. Im selben Augenblick hörte sie ein Motorrad die Straße
herunterkommen und eine Minute später seinen Schlüssel im Türschloß.
Er rief »Hallo«. An seinen Schritten
auf der schmalen Holztreppe konnte sie erkennen, daß er gute Laune hatte. Er
war so eifrig, sie zu finden, daß
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