Keine große Affäre
seines Kindes hörte.
»Nehm ich an«, sagte er und versuchte,
wenigstens ansatzweise begeistert zu klingen.
Die Hintertür öffnete sich, und sein
Bruder kam herein. Er ging zur Spüle, steckte die Finger in eine riesige Dose
Swarfega auf der Fensterbank, rieb sich die Hände damit ein und wusch sich
unter dem laufenden Wasserhahn den gröbsten Schmutz ab. Dann kam er zum Tisch
und setzte sich.
Pete war schon immer groß gewesen.
Aber jetzt war er auch schwer und stämmig. Kein Wunder, dachte Neil, als er
beobachtete, wie er ein Pfund Würstchen herunterschlang, das in einen halben
Laib Brot gewickelt war.
»Netter kleiner Snack«, sagte sein
Bruder und leckte sich die Lippen. »Und was gibt’s zum Dinner?« Er lachte.
Mit dem langen Haar, das zu einem
Pferdeschwanz gebunden war, dem hünenhaften Körper, der fast aus dem ehemals
weißen, ölverschmierten Overall zu platzen drohte, und dem gutmütigen Lächeln
sah er aus wie ein freundlicher Riese.
»Sag ihm, er soll auf sein Gewicht
achten«, drängte Cheryl Neil. Sie gab sich große Mühe, böse zu sein, konnte es
aber nicht lassen, das fröhliche Lächeln ihres Mannes zu erwidern. »Sein
Schnarchen ist ’ne Katastrophe.«
»Lust auf ein Bier, Kumpel?« Pete
schlenderte zum Kühlschrank und holte einen Viererpack heraus. »Ach, nimm ihn doch
mit in den Pub«, sagte Cheryl. »Ich will euch zwei Schmutzfinken nicht in
meiner Küche.« Sie warf Pete einen bedeutungsvollen Blick zu.
Sie hatte erraten, daß er unter vier
Augen mit ihm sprechen wollte, erkannte Neil, der Cheryls Intuition sehr schätzte.
»Okay, Kumpel?« fragte Pete.
»Okay«, antwortete Neil und umarmte
Cheryl schnell, bevor sie gingen.
»Paß auf dich auf«, sagte er zu ihr.
»Du aber auch«, entgegnete sie und
fragte sich, was ihn so bedrückte.
»Was ist los, Kumpel?« fragte Pete,
als er zwei große Biergläser auf den runden Tisch in der Kaminecke knallte. Er
nahm eines davon und trank daraus. »Bäh, das ist deins, Kumpel. Ich versteh
nicht, wie du das mit Limonade trinken kannst.«
»Ich bin mit der Maschine da, und es
schmeckt besser als diese alkoholfreien Biere!« sagte Neil.
»Na ja, da wär selbst ’ne Dose Fanta
noch besser als das Zeug«, bemerkte sein Bruder und nahm einen langen Zug aus
seinem Glas. Auf seiner Oberlippe erschien ein Schaumbart. Er leckte ihn ab.
Er war maßlos in allem, was er tat,
dachte Neil, der von den Gelüsten seines Bruders halb abgestoßen und halb
fasziniert war. Er sah sich im Pub um. Seit diesem wahnsinnig heißen Sommer
1976, als sie oft aus der Stadt hierhergekommen waren, um Cider zu trinken,
hatte sich einiges verändert. Damals war die Theke mit Messinggeschirr
geschmückt gewesen, und es gab dort einfache Holzdielen und ein Dartbrett. Wenn
man hungrig war, bestellte man sich von der Karte neben der Kasse ein Päckchen
Flips oder eine Tüte Chips aus den Kartons unter der Theke. Jetzt waren alle
Sitze gut gepolstert und mit rotem Stoff mit Knöpfen überzogen. Sie hatten
Teppich verlegt und auf alle Tische gedruckte Speisekarten gestellt, die aus
silbernen Haltern herausragten und Yorkshire Puddings mit verschiedenen Füllungen
anpriesen und irgendein Zeug, das Surf’n’Turf hieß. Früher hatte es ihm besser
gefallen.
»Cheryl ist schwanger. Hat sie’s dir
erzählt?« fragte Pete.
»Ja. Herzlichen Glückwunsch!« Neil
stieß halbherzig mit Pete an.
»Wie sieht’s bei euch aus? Wollt ihr
auch noch eins?«
»Auf keinen Fall!« sagte Neil ruhig
und fügte höflichkeitshalber hinzu: »Wenn, dann erst viel, viel später.«
Vater zu sein war so ganz anders, als
er es sich vorgestellt hatte. Er hatte große Schwierigkeiten gehabt, sich daran
zu gewöhnen, und absolut keine Freude daran. Wenn Lia das Kind anschaute,
schien sie Dinge zu sehen, die er beim besten Willen nicht sehen konnte. Sie
sprach über Anouska, als sei sie eine eigenständige Person. Wir haben heute
Pastinaken probiert, aber Anouska sagt, ihr schmecken Süßkartoffeln besser. Ihr
gefiel diese Rassel im Geschäft so gut, daß ich sie ihr einfach kaufen mußte.
Er unterstellte ihr nicht, daß sie dem Kind eine Persönlichkeit andichtete,
aber wenn er das Baby anschaute, sah er nur eine winzige Kreatur mit einem
verschreckten Gesichtchen, die sich nur auf zwei Arten ausdrücken konnte: Mit
einem zahnlosen Grinsen oder, was viel öfter der Fall war, mit unzufriedenem
Gebrüll. Wenn er es nicht wenigstens zweimal in der Nacht mit eigenen Ohren hören
würde, hätte er
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