Keine große Affäre
ihr.
Erschreckt und verlegen blickte sie
auf. Sie war erleichtert, daß er allein war.
»Wo ist Lucretia?« fragte sie schroff.
Er sah leicht verblüfft aus.
»Sie pudert sich gerade die Nase«,
antwortete er.
»Oh.«
»Du hast dich verändert«, sagte er.
»Ich hab dich fast nicht wiedererkannt.«
»Ach?« Sie war sich nicht sicher, ob
das gut oder schlecht war. War das seine Art, sich dafür zu entschuldigen, daß
er sie vorhin aus dem Weg geschubst hatte?
»Tolle Frisur«, fuhr er fort und
betrachtete sie anerkennend.
Sie griff sich nervös an die Schläfe.
Warum dachte sie immer, sie würde auf den Arm genommen, wenn jemand etwas Nettes
über ihr Aussehen sagte? Aus irgendeinem Grund dachte sie an Alison und die
Art, wie sie auf Komplimente reagierte. Es war erwachsener, sie charmant
entgegenzunehmen, als zu protestieren, dachte sie.
»Danke«, sagte sie so gelassen, wie
sie nur konnte.
»Ich hab gehört, du hast ein Baby
gekriegt... Ich hab dich in der Glotze gesehen«, sagte er.
Ihr Herz hatte angefangen, so laut zu
schlagen, daß sie überzeugt war, das ganze Restaurant könnte es hören. »Ja«,
sagte sie und versuchte das Thema zu wechseln. »Mich haben anscheinend eine
Menge Leute gesehen.«
»Ist doch nicht von mir, oder?«
scherzte er.
Also erinnerte er sich dran. Sie war
sich dessen nie ganz sicher gewesen. »Doch!« sagte sie, weil es ihr unmöglich
war zu lügen, tat aber so, als sei es ein Scherz.
Er warf den Kopf zurück und lachte.
»Wie würdest du dich fühlen, wenn es
so wäre?« fragte sie ihn und staunte über ihren nahezu Shakespeareschen Witz.
Es war so, als hätte in ihrer übersteigerten Nervosität eine seiner Versteck
spielenden Transvestitenheldinnen, wie zum Beispiel Viola aus Was Ihr wollt, für kurze Zeit Wams und Kniehose abgelegt und wäre in ihr rotes Samtkleid
geschlüpft.
Er hörte plötzlich auf zu lachen und
sah sie an, als witterte er eine versteckte Botschaft hinter ihren Worten. Sie
behielt ihren aufrichtigen, scherzhaft-unbekümmerten Gesichtsausdruck gerade
lang genug bei, um glaubwürdig zu erscheinen.
»Beunruhigt«, sagte er. Er schien mit
der Vorstellung zu ringen. »Und ziemlich stolz, nehme ich an.«
Was war bloß in sie gefahren, ihn das
zu fragen, wunderte sie sich, denn jetzt wollte sie mehr wissen. Die
Shakespeare-Heroine war von der Bühne verschwunden und wurde von einer
unglückseligen Freundin aus einem John-Osborne-Stück ersetzt.
»Hör zu, wir müssen mal zusammen
Mittag essen und uns richtig unterhalten«, sagte Charlie zu ihr, als er
Lucretia erblickte, die im Mantel an der Tür stand und gehen wollte.
»Okay«, sagte Ginger niedergeschlagen.
»Und ich versuche ein Restaurant
ausfindig zu machen, wo es Schokoladenpudding mit Vanillesauce gibt«, sagte er,
deutete auf die Dessertkarte und verschwand so schnell und leise, wie er
gekommen war.
»Es ist nur, du stellst dir jedes
mögliche Szenario vor. Was er fragen wird, was du antworten wirst, all das...
Und dann, peng, sagt er irgendwas, womit du nie gerechnet hättest, und du hörst
dich selbst etwas sagen, das du dir unbedingt verkneifen wolltest, und du
würdest am liebsten im Boden versinken«, erzählte Ginger am nächsten Morgen
Alison, als sie anrief, um zu hören, ob das Kleid ein Erfolg gewesen war.
»Oh je«, sagte Alison mitfühlend.
»Aber meistens war es gar nicht so schlimm, wie man denkt.«
»Wie wär’s damit: Ich hab ihm erzählt,
daß Guy sein Sohn ist...«
»Aber das ist doch gut. Ich bin froh,
daß du das getan hast«, unterbrach Alison sie.
»Nein, warte — Dann hab ich so getan,
als wär’s ein Scherz.«
»Oh...«
»Aber das Kleid war genial. Er hat
sogar ’ne Bemerkung darüber gemacht und gesagt, ich hätte mich verändert, was wahrscheinlich
gut ist, denke ich. Und, ach Mist, was soll ich bloß tun?«
Alison dachte einen Augenblick nach.
Sie ertappte sich dabei, wie sie Ginger um ihre arglose Ehrlichkeit beneidete,
die ihr selbst schon vor langer Zeit abhanden gekommen war. Heutzutage
bestanden ihre Frauengespräche nur noch aus scherzhaftem Geplänkel mit Ramona,
und dabei verriet sie nur selten etwas, das wirklich wichtig war.
»Ich finde, du solltest mit ihm zum
Lunch gehen — ihm eine Chance geben. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber
es gibt auch nette Männer.« Sie dachte an Stephens Gesicht am Abend zuvor, als
er Benedicts riesigem Teddybären sorgfältig die Fliege gerade gerückt hatte.
»Ach, der ruft sowieso nicht
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