Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
Jede Einzelne von ihnen befand sich in einer soliden langjährigen Beziehung. Selbst jene, die nicht verheiratet waren, hatten zumindest schon seit Jahren denselben Freund, lebten sozusagen in gesicherten Verhältnissen. Auf einmal verspürte Amelie ein Schaudern, das nichts mit ihrer Betrunkenheit zu tun hatte. Während sie sich in die Wartenden einreihte, die sich vor dem Waschbecken drängten, wurde ihr jäh klar, dass in nur zwei Wochen ihre beste Freundin vor ihren Augen zum Altar schreiten und ein Leben als Ehefrau beginnen würde.
Amelie beschloss, diesen verstörenden Gedanken fürs Erste zu verdrängen, und machte sich auf den Weg zurück in die Bar. Als sie die Tür aufstieß, schallte ihr »For she’s a jolly good fellow, she’s a jolly good fellow...« entgegen – die Freundinnen brachten Claire einmal mehr ein feuchtfröhliches Ständchen.
Sie setzte ein breites Grinsen auf und erreichte den Tisch gerade rechtzeitig um in das gebrüllte »And so say all of us!« mit einzustimmen.
»Okay, wie wär’s mit noch’ner Runde Tequilas?«, forderte sie die Gruppe heraus, die sogleich lachend und quietschend ihre Zustimmung erteilte.
Und dann, vier Stunden später, waren es nur noch zwei. Als die Kneipe zumachte, waren alle, bis auf Claire und Amelie, ins Hotel zurückgegangen, um dort weiter zu feiern. Die beiden langjährigen Freundinnen dagegen waren durch die Gegend gestolpert, hatten ein Bistro gefunden, das die ganze Nacht offen hatte, und sich mit Bagels gestärkt. Zwei Stunden später verließen sie, gesättigt und benebelt, auch diesen Ort und torkelten die Promenade entlang auf den Strand zu, in der Hand ihre Pink-Lady-Perücken.
»Und du bist dir auch ganz sicher, dass das der Weg zum Hotel ist?«, fragte Amelie misstrauisch.
»Klar, ist gleich da vorn und dann links, bin mir ganz sicher«, lallte Claire und knickte prompt ein. Sie musste sich am nächsten Laternenpfahl festhalten, um nicht hinzufallen. Giggelnd stülpte sie sich ihre wasserstoffblonde Sandy-Perücke auf und lallte: »Weissu was, Am... Amilie? Ich liiiiebe dich! Du... du bis’ die bessste Freundin, die ich je hatte!« Sie blieb stehen und sank dann jäh aufs Pflaster, wo sie in lautes Schluchzen ausbrach.
»He, was ist los mit dir?« Amelie blieb ebenfalls stehen und ließ sich neben Claire auf den Gehsteig sinken. Sie schlang den Arm um ihre Freundin und streichelte ihr übers Haar. »Was hast du denn, Süße?«
»Es, es, es is’ mir plötzlich klar gewor’n. Was, was, was mach ich eigentlich, verdamm’ noch mal?«, rief Claire hysterisch. »Wassum Teufel! In swei Wochen... vier, vier, viersehn Tage! In vier, vier, du weissschon, bin ich nich mehr ich – dann bin ich nur noch die Hälfte von, von, von... von was.«
»Die Hälfte von was ganz Tollem!«, versuchte Amelie ihre hysterische Freundin zu beschwichtigen.
»Aber verstehsu denn nich? Ich hab Scheißangst!«, kreischte Claire. »Was wenn, wenn, wenn... ich’s einfach nich kann?! Wenn ich nu ein’ Riesenfehler gemach’ hab und nich mehr zurück kann?!«
Claire war inzwischen zum Strand hinuntergewankt, wohin Amelie ihr treu gefolgt war. Claire zündete sich schwankend eine Zigarette an.
»He, wo hast du die her? Ich dachte, du hättest längst aufgehört!«, rief Amelie schockiert. »Außerdem raucht Sandy nicht.«
»Die Sandy hier schon! Und dasis mein Junggesellnabschied, verdammochmal. Wenn ich jetzt nich rauchen darf, wann dann?«
»Is ja gut. Aber komm mir das nächste Mal nicht mit Vorwürfen, wenn ich rauche!« Amelie schob Claires Arm unter den ihren, und die beiden wankten den Strand entlang.
»Außerdem ist es nie zu spät, mein Schatz«, sagte Amelie und rammte sich ihre Rizzo-Perücke auf den Kopf, als ob dies helfen würde. »Aber darum geht’s gar nicht. Ich kenne dich, und ich weiß, du hast die richtige Entscheidung getroffen. Du musst es jetzt durchziehen. Schon allein mir zuliebe, weil ich es sage. Du hast einfach nur kalte Füße, das ist normal.«
»Ach, Amelie, ich weiß nicht!«, jaulte Claire und bibberte vor Kälte. Sie blieb stehen und schaute ihre Freundin mit nassen Augen an. »Ich... ich... wenn ich dich anschaue, dann, dann weiß ich nich... ich glaube, ich beneide dich um deine Freiheit. Du kannst gehen, wohin du willst, tun, was du willst, sein, was du willst. Und ich bin drauf und dran, all das aufzugeben …«
»Unsinn!«, rief Amelie heftig. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. »Claire, du wirst weiter in jeder
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