Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
schüchternes »Hallo, allerseits« hervor.
»Ähm... ja. Schön, dass Sie hier sind.«
Was sagte man bloß in einer solchen Situation? Warum, warum war sie bloß keine Rednerin, warum konnte sie sich nicht etwas Witziges einfallen lassen wie andere auch? Sie warf einen hilfesuchenden Blick auf Josh. Dieser versuchte, ihr etwas mit den Augen zu verstehen zu geben, doch als sie nicht kapierte, beugte er sich vor und drückte auf eine Taste. Und wie durch ein Wunder erwachte der Bildschirm zum Leben.
»Hat sich auf Standby geschaltet, das ist alles«, flüsterte er ihr gelassen zu und versuchte, sie mit seinen Augen zu ermuntern, fortzufahren.
Amelie strahlte ihn an, als habe er sie soeben aus einer Skorpiongrube gezogen. Diesem Mann würde sie ihre Kinder schenken, schwor sie sich, schwindlig vor Dankbarkeit. Nie im Leben war sie derart erleichtert gewesen, ein paar Dias zu erblicken. Rasch ordnete sie sie ein wenig, wobei sie sich überdeutlich der unbehaglichen Stille im Saal bewusst war. Sie durfte es nicht länger hinauszögern.
»Tut mir leid, ein kleiner technischer Fehler. Aber jetzt ist alles wieder in Butter.« Sie grinste dümmlich. Wenn sie im Publikum säße, sie hätte jetzt schon genug, dachte sie verzweifelt bei sich. Ihr Herz klopfte so laut und heftig, dass sie unwillkürlich zu Josh hinschaute, um zu sehen, ob er es möglicherweise hörte. Doch er zwinkerte ihr lediglich zu und schenkte ihr sein typisches schiefes Grinsen. Sie spürte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ und stattdessen von einem Gefühl von, ja, beinahe Gelassenheit ersetzt wurde.
Amelie warf einen Blick auf ihre Notizen und begann mit den Worten: »›Love is the answer‹.« Sie hielt inne, merkte, wie sehr sie zitterte und betete, dass die Röte ihrer Wangen nicht zu offensichtlich war. Sie holte tief Luft und versuchte das massive Beben, das sie erschütterte und das hoffentlich nicht von jedem im Saal bemerkt wurde, in den Griff zu kriegen. Eine, wie sie hoffte, ruhige Miene aufsetzend fuhr sie fort: »Das ist, wie wohl jeder weiß, eine Zeile aus einem John-Lennon-Song. Und ich glaube, er hatte nicht ganz Unrecht....« Amelie hielt inne und blickte auf, machte Augenkontakt mit ihrem Publikum, was ihr glücklicherweise noch rechtzeitig eingefallen war. Dann fuhr sie fort: »Ja, man könnte sagen, dass in dieser zunehmend nihilistischen, agnostischen, entfremdeten Welt, in der wir leben, die Liebe unsere neue Religion, unser neues Glaubensbekenntnis geworden ist. Wir alle wollen an die Vorstellung glauben, dass das Schicksal uns unsere einzige wahre Liebe zuführt... oder an Cupido, der nobel seinen Bogen spannt und für uns den perfekten Partner fürs Leben erlegt.« Amelie hielt inne. Sie musste an ihren alten Englischlehrer in der Highschool denken, der ihnen immer eingetrichtert hatte, langsam zu sprechen, wenn man einen Vortrag hielt und nicht durch seine Worte zu galoppieren, als wäre der Teufel hinter einem her. Sie nahm einen Schluck Wasser, blickte auf ihre Notizen und versuchte zu entziffern, was sie sich aufgeschrieben hatte.
»Einige... einige von uns warten ihr ganzes Leben auf diesen einzigen magischen Moment, fragen sich andauernd, was wäre wenn? Beten darum, die Liebe möge kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Immerhin hat ein anderer Philosoph einmal gesagt« – Amelie hielt inne und dachte mit Schrecken, wie blöd, wie kitschig das klingen würde, was sie jetzt gleich sagen musste. Warum nur war ihr das nicht schon klar geworden, als sie es in ihrem stillen Kämmerlein ausbrütete? Nun, zu spät. Jetzt hieß es: Augen zu und durch.
»›You can’t hurry love... You’ll just have to wait.‹« Amelie brachte den Satz mit einem ironischen Lächeln, und offenbar schien dies zu funktionieren, denn als sie nun aufblickte, war ihr ein Meer lächelnder Gesichter zugewandt. »Und ja, auch Diana Ross hatte nicht ganz Unrecht. Wer wollte ihr auch widersprechen?«
Verhaltenes Gelächter. Amelies Blick schweifte über ihre Kolleginnen und Kollegen, und sie spürte, wie ihre Wangen sich etwas abkühlten, wie sich ein wenig Entspannung in ihr breit machte.
»Nun, ich war ihrer Meinung. Auch ich habe immer geglaubt, dass man schön brav die Hände in den Schoß legen und auf die wahre Liebe warten muss. Die kommt, wenn man es am wenigsten erwartet. Aber das Problem ist, die Zeiten haben sich geändert. Wir leben nun in einer ganz anderen Welt. In einer manisch-hektischen Welt, einer Welt, die
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