Keine Lady fuer Lord Strensham
wie eigenartig es war, ein Hausmädchen beim Schmökern in einem lateinischen Klassiker zu ertappen.
Geistesabwesend schob er den Brief beiseite, auf den er sich nun doch nicht mehr konzentrieren konnte, und fasste das Buch ins Auge. Selbst eine Dame von Stand, die Vergils „Aeneis“ im Original las, würde, gelinde gesagt, für sonderbar gelten. Wie sollte es also einem Hausmädchen möglich sein, diesen Text zu begreifen?
Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er aufgewühlt. Hetty verbirgt doch etwas. Vielleicht hat sie in jener Nacht im Wald auf einen Komplizen oder Liebhaber gewartet? Der Gedanke genügte, dass Marcus die Hände unwillkürlich zu Fäusten ballte. In seinen Armen hatte sie sich wie die Unschuld in Person gebärdet, aber wenn sie ihm nun nur etwas vorspielte?
Marcus’ Sorge wuchs. Ganz offensichtlich war es seine Pflicht herauszufinden, ob Hetty im Haushalt seines Cousins eine Bedrohung darstellte. Immerhin hatte man sie im Vertrauen auf ihn eingestellt. Er durfte sich von seiner Leidenschaft für Hetty nicht völlig versklaven lassen.
In jedem Fall musste man ein Auge auf das freche Hausmädchen haben. Sollte sie tatsächlich zu einer Verbrecherbande gehören, die einen Überfall auf das Gut plante, würde er alles tun, um ihre Pläne zu vereiteln – außer vielleicht, Hettys schlanken Hals dem Galgen zu verantworten. So weit würde er nicht gehen.
Schon die Vorstellung genügte, um ihn schaudern zu lassen. Genau wie bei jeder anderen Frau auch, versicherte er sich hastig. Allerdings konnte er sich nicht wirklich etwas vorgaukeln. Noch nie hatte er einen so heftigen Drang verspürt, ein Hausmädchen zu verführen.
Seine Sünden noch zu vermehren, indem er Hettys Ruin herbeiführte, wäre abscheulich und seiner nicht wert. Trotz der vielen Ungereimtheiten in ihrem Verhalten war sie nicht die hartherzige Verführerin, für die er sie gern gehalten hätte. Er kannte sie kaum, doch seine Gedanken kreisten ständig um sie.
Nun, das muss aufhören, sagte er sich entschlossen. Und was Vergil anging – Hetty Smith war ein unschuldiges kleines Dienstmädchen, das natürlich kein Latein verstand. Es ist lächerlich, weiter darüber nachzudenken, überlegte er. Vielleicht hat sie aus Neugier darin geblättert. Einigermaßen zufrieden mit seinen Schlussfolgerungen verließ Marcus die Bibliothek und ging, wenn auch widerstrebend, in den Salon, wo er schon sehnsüchtig erwartet wurde.
6. KAPITEL
„Oh, Marcus, dem Himmel sei Dank, du bist es nur“, begrüßte Lydia den Cousin ihres Mannes. Es war am folgenden Nachmittag, und Marcus suchte am selben Ort Zuflucht wie sie. „Du brauchst mich nicht so anzusehen. Ich wollte nicht unhöflich sein“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Ich wusste gar nicht, wie beängstigend ich wirke, bis dein jüngster Gast einen Blick auf mich warf und aus dem Zimmer floh, als wäre ich der Leibhaftige. Hast du dich auch hier vor mir verstecken wollen?“
„Ich muss nur ein wenig meine Kräfte sammeln, bevor ich mich wieder in die Schlacht werfe, mein Lieber.“
Das hübsche kleine Cottage am See war ausschließlich für sie neu eingerichtet worden. Jeder wusste, dass Lydia sich hierher zurückzog, wenn ihre Pflichten sie zu überwältigen drohten. Das gemütliche Häuschen passte so viel besser zu ihr als der große, einschüchternde Bau auf der anderen Seite des Sees. Hier konnte sie sicher sein, nicht gestört zu werden.
„Es tut mir so leid, euch das alles aufbürden zu müssen“, sagte er bedrückt. Kein Dank könnte den Gefallen wiedergutmachen, den Ned und Lydia ihm mit dieser Hausparty erwiesen.
„Ach, Unsinn. Wir hätten uns sonst diesen Sommer fürchterlich gelangweilt“, tat sie seinen Einwurf ab.
Mit einem schiefen Lächeln strich er ihr kurz über die Wange. „Manchmal kann ein wenig Langeweile ein sehr wünschenswerter Zustand sein.“
Lydia betrachtete ihn nachdenklich. „Ist es dir schon zu viel, den höflichen Galan zu spielen?“
„Mehr, als ich dir sagen kann. Außerdem belästige ich dich und Ned nur ungern mit meinen Angelegenheiten. Vielleicht sollte ich doch meine Stiefmutter bitten, ein unglückliches kleines Ding für mich zu finden. Sie wird eine aussuchen, die zwar über viel Geld, aber wahrscheinlich auch eine kränkliche Konstitution verfügt – so geht vielleicht ihr Wunsch in Erfüllung, dass ich ohne Erben bleibe. Dann erbt ihr Sohn Colin am Ende doch den Titel.“
„Diese fürchterliche Frau stirbt lieber, bevor sie
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