Keine Lady ohne Tadel
kein junges Mädchen mehr. Nein, sie war bereits siebenundzwanzig und hochschwanger dazu.
Nun stand er vor ihr, strahlend schön in seinem groben Arbeitshemd. Er hatte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, sodass seine kräftigen Unterarme zu sehen waren. Er glich so gar nicht den glatten, schmächtigen Gentlemen ihrer Bekanntschaft, sondern hatte etwas Wildes, Ungezähmtes an sich. Esme wurde von einer plötzlichen Scheu übermannt und fühlte sich außerstande, ihm in die Augen zu sehen.
»Mylady«, sagte er, und seine Stimme war so ruhig und tief wie die eines Marquis. »Was führt Sie in mein bescheidenes Heim?«
Sie biss sich auf die Lippen und schwieg. Verlegenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Hatte sie ihm nicht beim letzten Mal geschworen, ihn nie wieder zu besuchen?
»Du bist am Verlust meines Mittagessens schuld.« Er hob ihr Kinn empor, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Wie ein Turm ragte er vor ihr auf. Genau die Art Mann, vor der man alle jungen Mädchen warnen musste. Ein Mann, der weder Gesetz noch Ehrbarkeit kennt, ein Mann, der sich nimmt, was er will.
»Das war Zufall«, betonte Esme.
»Dann musst du mir ein neues Mahl bieten.« Kaum hatte sie Zeit, die Begierde in seinen Augen zu erkennen, als sich sein Mund auch schon auf ihren senkte.
Es war immer das Gleiche. Es war nicht zu beschreiben. Esme war verheiratet gewesen. Sie hatte Liebhaber gehabt. Aber nun hielt sie an Baring, ihrem Gärtner, fest, als wäre er der erste Mann auf Erden und sie die erste Frau. Es war, als sei seine verräucherte kleine Hütte mit dem Eintopfgeruch der Garten Eden, und sie selbst Eva, die sich in Adams Arme schmiegte. Und er hielt sie mit derselben Begierde fest.
Erst ganze zehn Minuten später fiel Esme wieder ein, warum sie eigentlich zu der Hütte gegangen war. Inzwischen saßen sie eng umschlungen auf seinem Bett, wenn auch vollständig angekleidet. »Du bist entlassen«, murmelte sie an seiner Schulter. Er roch nach Holz und Rauch und nach Rosalies Eintopf und noch stärker nach Wald und Wiese – ein sauberer Geruch, wie ihn kein Aristokrat an sich trug.
»Ach, tatsächlich?« Seine Stimme klang heiser und schläfrig und brachte Esmes Brüste zum Kribbeln.
»Mrs Cable startet einen Feldzug, um sämtliche unverbesserlichen Sünder des Dorfes auszumerzen, und du gehörst mit Sicherheit dazu.«
»Ist das die kleine Person, die ihr Haar in einem strengen Knoten trägt?«
Esme nickte.
»Sie hat es bereits versucht«, gab er lachend zu. »Ist letzte Woche in die
Forelle
gekommen und hat den Burschen eine Menge Traktate ausgehändigt, worin Gottes Ansichten über die Gewohnheiten der Sünder kundgetan wurden. Ich nehme an, sie hat vergessen, dass im Dorf nicht viel gelesen wird.«
»Warte nur, bis sie dahinterkommt, dass meine Tante Arabella zu Besuch ist und etliche Gäste mitgebracht hat. Denn keiner der besagten Gäste verfügt über einen guten Ruf. Hörst du mir überhaupt zu?«
»Natürlich.« Er pflanzte eine Reihe Küsse auf ihren Nacken.
»Das ist nicht komisch!«, protestierte Esme. »Gerade du solltest doch wissen, wie wichtig Ehrbarkeit ist. Letztes Jahr noch wurdest du von der Gesellschaft als der Aufrechteste aller Gentlemen angesehen.«
Er grinste. »Ja, und du siehst ja, was es mir genützt hat. Nun bin ich hier gelandet, lebe in Ungnade gefallen auf dem Kontinent, und sieh nur, wie klein er ist!« Er sah sich bedeutungsvoll in der Hütte um.
»Das ist ganz allein deine Schuld!«, fauchte Esme. Eine gemeine Lust, ihm wehzutun, stieg in ihr auf. »Wenn du dich nicht mitten in der Nacht in mein Schlafgemach geschlichen hättest, würdest du jetzt noch auf dem Richterstuhl sitzen und Urteile über ehrlose Frauen wie mich fällen.« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich hatte immer das Gefühl, von dir mit Argusaugen beobachtet zu werden.«
Sie hob den Blick zu ihm und stellte fest, dass er sie tatsächlich beobachtete.
»Das stimmt auch.«
»Und nicht bloß beobachtet – du hast mich verurteilt.«
»Was blieb mir sonst übrig?«, machte er geltend. »Es hat mich schier zur Verzweiflung gebracht, dass du verheiratet warst.«
Esme spürte, wie in ihrem Herzen verhaltene Freude aufkeimte. Welche Frau hörte so etwas nicht gern? »Aber sag mir doch, was ich jetzt tun soll, Sebastian. Ich weiß, dass du es töricht findest, aber ich habe Miles nun mal versprochen, eine rechtschaffene Ehefrau zu werden, sobald unser Kind auf der Welt ist. Ich darf nicht erlauben, dass
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