Keine Lady ohne Tadel
guten Gründe ins Gedächtnis zu rufen, warum sie ein ehrbares Leben beginnen wollte. Mrs Cable zählte nicht dazu. Die Frau hatte eine spitze Nase, die wachsamen Augen einer Schwalbe und eine Gefolgschaft von Bekannten, die es mit der Entourage des Prinzregenten aufnehmen konnte. Für Mrs Cable kam Anstand gleich hinter Göttlichkeit, und wenn sie jemals die Wahrheit herausfände, wäre Esmes Ruf in ganz England vernichtet.
Unter normalen Umständen hätte Esme zu einer Frau wie Mrs Cable mindestens zehn Yards Abstand gehalten. Doch mittlerweile konnte sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten. Mrs Cable war die Vorsitzende des Nähkränzchens, jenes Allerheiligsten vornehmer Damen, die ihr Leben der Tugendhaftigkeit und der Wohltätigkeit geweiht hatten. Wenn das Nähkränzchen nicht gerade damit beschäftigt war, hektarweise grobes Leinen für die leidenden Armen zu säumen, dann überwachte es die Reputation der gesamten Bevölkerung in den angrenzenden fünf Grafschaften. In diesen erlauchten Kreis aufgenommen zu werden hatte das diplomatische Geschick eines geläuterten Lebemannes erfordert, der einen Bischofssitz der Kirche von England anstrebt, und Esme hegte die Befürchtung, dass sie ihre neu gewonnene Ehrbarkeit alsbald wieder verlieren würde.
Doch was konnte sie tun? Ihr Gärtner weigerte sich stur, aus ihren Diensten zu scheiden. Vermutlich streifte er in ebendiesem Augenblick durch ihren Garten – oder nein, es war ja bereits Mittag. Also würde er in seiner Hütte am Ende des Apfelgartens sein, sich ausruhen, Homer lesen und keinen Gedanken daran verschwenden, wie sehr seine Anwesenheit ihrem Ruf schadete.
Es kam nicht infrage, dass sie ihn dort aufsuchte. Schließlich war dies Esmes neues Leben, ein Leben voller Prinzipien und Ehrbarkeit. So hatte sie es jedenfalls ihrem Mann Miles versprochen. Bevor er starb, hatten sie gemeinsam beschlossen, dass er seine Geliebte Lady Childe aufgeben sollte und dass sie, Esme, zu der Art Frau werden sollte, die zierliche Spitzenhäubchen trägt und Decken für die Armen näht. Und die niemals, wirklich niemals auch nur einen Gedanken an ihren Gärtner verschwendet.
Zwei Minuten später hatte Esme sich in einen gefütterten Umhang gehüllt und ihrer Zofe mitgeteilt, sie brauche frische Luft. Mein Kind ist ja noch nicht zur Welt gekommen, redete sich Esme ein, während sie über den Rasenhang zur Gärtnerhütte eilte. Wenn das Kind erst geboren war, würde sie ihren Gärtner nie wiedersehen. Sie würde Slope anweisen, dass er ihm kündigte. Esme beschleunigte ihre Schritte.
Die Hütte, ein kleines, roh gezimmertes Häuschen, lag am tiefsten Punkt des Gartens. Alles darin gab es nur einmal: einen Stuhl, eine Bank, einen Tisch, einen Kamin. Ein Bett. Und einen Gärtner.
Als Esme die Tür aufstieß, stand er vor dem Kamin und drehte ihr den Rücken zu. Er hatte sie nicht gehört, doch als die Tür schwer ins Schloss fiel, fuhr er herum und stieß dabei den Topf vom Feuer, dessen Inhalt sich auf den Boden ergoss. Etwas, das aussah wie Möhren- und Fleischklumpen, verschwand in den Dielenritzen. Esmes Magen knurrte vernehmlich. Die Schwangerschaft brachte es leider mit sich, dass sie ständig Hunger litt.
Er sah sie wortlos an, daher setzte Esme ein keckes Lächeln auf. »Du hast mir nie gesagt, dass du kochen kannst.«
Er schwieg und machte einen Schritt auf sie zu. Esmes Gärtner war ein großer Mann mit der Figur eines Reiters, zerzausten blonden Locken und Augen von dem azurnen Blau eines Sommerhimmels. Seine Züge waren so ebenmäßig, als wären sie aus Marmor gehauen. Kein Mann hatte das Recht, so schön zu sein. Er war eine Gefahr für das weibliche Geschlecht, sogar für Mrs Cable. »Hast du diesen Eintopf selbst gekocht?«, fragte Esme und deutete auf den Topf.
»Rosalie aus dem Dorf hat ihn mir gebracht.«
Esme beäugte ihn argwöhnisch. »Rosalie? Wer ist das?«
»Die Tochter des Bäckers«, erwiderte er achselzuckend und tat noch einen Schritt auf sie zu. »Soll dies ein Höflichkeitsbesuch sein, Mylady?« Ein Funke war in seinen Augen aufgesprungen. Esme spürte ihr Herz klopfen. Ihre Knie wurden weich.
Sie öffnete den Mund, um ihm mitzuteilen, dass er kurz davorstehe, aus seiner Stellung entlassen zu werden. Doch stattdessen sagte sie: »Wie alt ist diese Rosalie?«
»Rosalie ist nur ein junges Mädchen aus dem Dorf«, antwortete er gleichmütig.
»Aha«, machte Esme, die begriff, dass es dazu nichts zu sagen gab. Sie selbst war beileibe
Weitere Kostenlose Bücher