Keine Lady ohne Tadel
begonnen, als sie feststellen musste, dass ihr Sohn wieder in England weilte. Nun schien er sich mit rasender Geschwindigkeit zu etwas absolut Widerwärtigem zu steigern.
»In unseren Kreisen heiratet man nicht aus Liebe«, erklärte sie kategorisch. »Heirate eine anständige Frau, dann kannst du dir später immer noch überlegen, was du mit Lady Rawlings anfangen willst.«
»Ich liebe sie, und ich werde sie zur Frau nehmen.«
»Ich komme mir vor wie in einer komischen Oper. Dabei verabscheue ich Musiktheater jeder Art. Wirst du mir gleich etwas vorsingen?«
»Nicht jetzt.«
»Mal sehen, ob ich dich recht verstanden habe: Du glaubst in eine Dirne verliebt zu sein, die ihr Bett mit halb London geteilt hat, und deren Mann du zwar nicht getötet, aber doch in die Nähe des Grabes gebracht hast?«
»Lass dich ein letztes Mal warnen, Mutter!«, stieß er durch seine zusammengebissenen Zähne hervor. »Du sprichst von der Frau, die ich heiraten will, von der Frau, die deinen Titel erben wird. Sprichst du nur noch einmal schlecht von ihr, dann wirst du nicht mehr Teil unseres Lebens sein.«
Die Marquise erhob sich ein wenig mühsam – die Gicht in ihrem linken Fuß wurde ständig schlimmer – und klopfte noch einmal mit Nachdruck auf den Boden, was jedoch wenig Wirkung zeigte. Dennoch sah sie erfreut, dass ihr Sohn sich ebenfalls erhob. Immerhin hatte er noch nicht sämtliche guten Manieren verloren.
»An dem Tag, an dem du die Dirne heiratest, werde ich dich verstoßen«, sagte sie in einem Ton, als rede sie über das Wetter. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du mit solchen Folgen gerechnet hast. Ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass mein Erbteil nicht unbeträchtlich ist. Jedes Kind, das du …«
Sebastian stöhnte innerlich. Nun war auch der zweite Groschen gefallen.
»Mein Gott, die Frau ist
enceinte!
Ich hatte ja ganz vergessen, dass sie ein Kind erwartet. Sag jetzt nicht, dass du Esme Rawlings vor ihrer Niederkunft heiraten willst!«
Sebastian spielte mit der Vorstellung, damit zu drohen, Esme schon morgen zu heiraten, um ihr ungeborenes Kind zu seinem Erben zu machen. Aber er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass seine Mutter Herzrasen bekam. Miles Rawlings’ Tod lastete bereits schwer genug auf seinem Gewissen. Und außerdem weigerte sich Esme ja immer noch, ihn zu heiraten.
»Lady Rawlings hat meinen Antrag nicht angenommen«, gestand er.
Grimmige Befriedigung spiegelte sich in der Miene seiner Mutter. »Nun, so zeigt sich wenigstens einer der Beteiligten vernünftig. Natürlich kann sie dich nicht heiraten. Du hast ihren Mann getötet.« Sie begann, unter Zuhilfenahme des Stockes auf die Tür zuzuhumpeln. »Ich weiß nicht, woher du diese teuflische Selbstaufopferung hast. Von deinem Vater jedenfalls nicht.«
Plötzlich brach sich der Zorn Bahn, der lange in ihm gebrodelt hatte. Er überholte seine Mutter und vertrat ihr den Weg.
»Geh beiseite!«, befahl sie.
»Ich werde Esme Rawlings dazu bringen, mich zu heiraten. Sie wird meinen Antrag annehmen, weil auch sie mich liebt. Außerdem erwarte ich, dass du zur Hochzeit kommst und dich anständig benimmst.«
»Es wird keine Hochzeit geben«, gab seine Mutter seelenruhig zurück. »Einen Augenblick lang habe ich mir Sorgen gemacht, das gebe ich zu. Aber wie ich Esme Rawlings kenne, ist sie nicht nur lasterhaft, sondern auch klug. Sie wird dich nicht heiraten, ja, sie wird es nicht einmal in Erwägung ziehen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass Rawlings sie gut versorgt zurückgelassen hat, und eine Frau wie sie braucht keinen Beschützer und noch viel weniger einen Ehemann. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest: Ich möchte mich zurückziehen.«
Und sie ging an ihm vorbei.
Sebastian fuhr auf dem Absatz herum und ging zum Fenster. Er ballte die Faust, zog sie aber zurück, bevor er das Fenster einschlagen konnte. Seine Mutter hatte nicht mehr gesagt als Esme selbst, obwohl diese nie behauptet hatte, er sei nicht der Vater des Kindes. Aber vermutlich zog sie es vor, Miles für den Vater zu halten. Wie konnte ein Mann die Vaterstelle an einem Kind vertreten, wenn alle Welt – einschließlich seiner Mutter – glaubte, er habe den Vater des Kindes umgebracht?
Sebastian Bonnington hatte in seinem Leben nicht viele Hindernisse zu überwinden gehabt. Dank seiner Mutter verfügte er über ein bemerkenswert gutes Aussehen und starre Prinzipien. Andere Männer mochten ihre Geliebten oder den Spieltisch aufsuchen und
Weitere Kostenlose Bücher