Keine Lady ohne Tadel
unsere Lieblingsgedichte vorlesen, nicht wahr? Wenn Helene ein passendes Gedicht vorliest und dabei Fairfax-Lacy anschaut, dann muss es einfach klappen! Auf diese Art vergeben Sie sich nichts«, wandte sie sich an Helene. »Das Gedicht wird für Sie sprechen. Und ich garantiere Ihnen, dass er noch in derselben Nacht zu Ihnen kommt.«
»Eine ausgezeichnete Idee.« Esme nickte.
»Aber ich kenne doch gar keine Liebesgedichte!«, entgegnete Helene. »Abgesehen von Gedichten von Shakespeare.«
»Gut!«, rief Bea. »Denn Gedichte über Liebe können wir natürlich nicht gebrauchen!«
»Nicht?«
»Lieben Sie ihn?«, fragte Bea.
»Äh, nein.«
»Genau darauf will ich hinaus. Das ist eine ganz andere Art von Poesie. Und machen Sie sich keine Sorgen, ich reise nie ohne meine Lieblingsautoren.«
»Sie sind wirklich bemerkenswert. Reisen Sie stets mit … mit dieser Art von Gedichten?«, fragte Helene.
»Selbstredend«, erwiderte Bea und klappte ihren Fächer auf.
Fasziniert sah Helene zu, wie sanft Bea das hauchzarte, aus Spitzen gewebte Utensil handhabte. Sie hielt den Fächer eben unter Augenhöhe und wirkte dadurch noch zehnmal begehrenswerter. Heute Abend werde ich mit meinem Fächer üben, nahm Helene sich vor. Vor dem Spiegel. Wenn ich ein Gedicht lese und mir dabei den Fächer vors Gesicht halte, kann auch niemand mein Erröten sehen. Helene hasste es, ständig wie ein blutjunges Ding zu erröten.
»Und vergessen Sie nicht, dass Ihre Freundschaft mit Mr Fairfax-Lacy Ihrem Mann die Galle überlaufen lassen wird«, fügte Bea genüsslich hinzu.
»Natürlich habe ich das nicht vergessen!«, sagte Helene. Warum sonst hätte sie sich wohl zu einem derart unmoralischen Unterfangen bereitfinden sollen?
»Denk einfach nur daran, Stephen beim Lesen anzuschauen«, empfahl Esme. »Ich werde euch beim Abendessen nebeneinandersetzen, dann kannst du die entsprechenden Blicke schon einmal üben. Ich muss natürlich an seiner anderen Seite sitzen, weil Arabella so darauf erpicht ist, dass wir heiraten.«
»Damit liegt Arabella gar nicht so falsch, Esme. Er wäre dir gewiss ein guter Ehemann. Ich habe eben gedacht, wie gern ich statt Rees einen Mann wie ihn geheiratet hätte.«
»Aber dieser Mann ist nichts für mich«, erklärte Esme achselzuckend.
»Und für mich auch nicht«, setzte Bea mit einem entzückenden Katzengähnen hinzu. »Er gehört voll und ganz Ihnen, Helene. Das heißt, wenn Sie so viel Tugendhaftigkeit und Wichtigtuerei ertragen können.«
»Er ist kein Wichtigtuer!«, protestierte Helene. Dann merkte sie, dass die beiden sich nur über sie lustig machten.
»Kein Wichtigtuer – und er passt perfekt zu Ihnen. Über die Gedichte reden wir morgen, ja?« Bea zwinkerte ihr zu.
»Lieber nicht«, gab Helene zurück und nagte an ihrer Unterlippe. »Wenn ich schon etwas Schockierendes vorlesen muss« – sie betrachtete Bea argwöhnisch – »und meinem Gefühl nach werden Sie genau so etwas auswählen, dann würde ich es vorziehen, das Schlimmste erst dann zu erfahren, wenn es so weit ist.«
Esme legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter. »Ich bin doch dabei und werde dich anspornen.«
»Ich auch!«, stimmte Bea fröhlich ein.
Helene schaute wieder zu Stephen Fairfax-Lacy hinüber. Er lehnte am Kamin und war in ein Gespräch mit einer dicken Dame von einem benachbarten Herrenhaus vertieft. Stephen war der Inbegriff einer zeitlosen Eleganz, von der ihr Mann nicht einmal träumen konnte. Rees war es völlig gleichgültig, welchen Rock er am Morgen anzog. Nie im Leben hatte er eine Krawatte korrekt binden können. Und da es kein anständiger Kammerdiener lange bei ihm aushielt, hatte er auch niemanden, der sie ihm anständig band.
Stephen Fairfax-Lacy war genau das, was sie brauchte: ein Gegengift zu ihrem verabscheuungswürdigen Ehemann. Er war der genaue Gegensatz von Rees. Helene ballte die Hände zu Fäusten. Sie würde es tun. Sie würde es tun, und dann würde sie Rees davon erzählen. Und wenn er erst von Eifersucht geplagt wurde …
Das Lächeln auf dem Gesicht von Lady Helene Godwin zeugte von purer weiblicher Genugtuung.
Wenn Rees von Eifersucht geplagt wurde – und wenn ihm die Galle überlief –, dann würde sie lediglich lachen und ihn stehen lassen.
6
Männer sind widersprüchliche Geschöpfe – man kann es gar nicht oft genug sagen
Bonnington Manor
Malmesbury, Wiltshire
Die Marquise Bonnington war es nicht gewöhnt, Widerrede von einem Vertreter des männlichen Geschlechts
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