Keine Lady ohne Tadel
kurz vor dem Zerreißen. »Ich habe nicht gesagt, dass du ihn nicht einladen sollst!«, fauchte sie. »Ganz offenkundig wird hier eine Gesellschaft gegeben, warum also nicht noch einen Gast einladen? Zumindest wären dann die Geschlechter gleichmäßig vertreten, und das würde immerhin Arabella zufriedenstellen.«
Helene zögerte. »Ich weiß aber nicht, ob er kommen wird.«
»Nun mal frei heraus: Warum willst du überhaupt, dass er kommt? Denn solche Beziehungen, das kann ich dir versichern, sollte man lieber vor seinem Ehemann geheim halten.« Weiß Gott, auf dem Gebiet war sie Expertin!
»In meinem Fall ist das aber anders«, flüsterte Helene. »Esme, ich will mich mit Stephen vor ihm bloßstellen!«
»Bloßstellen?«, echote Esme verständnislos. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre sie unter eine Droschke geraten. Das war Sebastians Schuld. Die letzte Nacht war für eine Frau in ihren Umständen zu viel gewesen. Wahrscheinlich würde sie für alle Zeiten verkrüppelt sein.
»Und er ist einverstanden«, fuhr Helene fort.
»Womit?«
»Dass wir es tun!«
»Ach, um Himmels willen!«, fauchte Esme. »Wovon zum Teufel redest du da überhaupt?«
»Stephen und ich wollen Rees demonstrieren, dass ich keine langweilige, frigide Frau bin«, antwortete Helene. Eine brennende Röte war ihr in die Wangen gestiegen, dennoch schaute sie Esme trotzig an.
»Das hat Rees niemals gesagt!« Esme machte die Augen schmal. »Dieser Verworfene hat es gewagt, so etwas zu dir zu sagen?«
Helene nickte.
»Dann ist es nur gut, dass er nicht hier ist!«, knirschte Esme. »Ich würde ihn in Stücke reißen. Die Männer sind doch alle gleich. Lüstlinge und Schurken, einer wie der andere!«
»Du scheinst wirklich nicht bester Laune zu sein«, stellte Helene fest und betrachtete ihre Freundin prüfend. »Hast du letzte Nacht nicht gut geschlafen, Esme? Du hast Ringe unter den Augen. Wie geht es dir? Kommt das Baby bald?«
»Nein. Einmal am Tag kommt die Hebamme aus der Küche, stupst mich an und verkündet, dass die Natur ihren Lauf nehmen wird. Ich kann diesen Satz schon nicht mehr hören!« Esme legte den Kopf in den Nacken. An der Decke des Salons schwebten gipserne Götter und Göttinnen und aßen Trauben, die ihnen von Putten neckisch vor die Nase gehalten wurden. Alle Göttinnen waren rank und schlank. Sehr schlank. Sie hingegen würde ihre zusätzlichen Pfunde sicher nie mehr loswerden.
»Was hältst du von meinem Plan?«, wollte Helene wissen.
Esme starrte sie verständnislos an. »Plan? Was für ein Plan?«
»Esme«, sagte Helene mit Nachdruck. »Du bist heute nicht du selbst. Möchtest du, dass ich dich auf dein Zimmer bringe?«
Esme überlegte, ob sie sich dann schlechter fühlen würde – oder ob es überhaupt etwas gab, wodurch sie sich schlechter fühlen würde als jetzt bereits –, als Slope erschien.
»Mylady«, sagte er mit einem warnenden Unterton, der alle Köpfe im Zimmer herumfahren ließ. »Die Marquise Bonnington möchte Ihnen einen Besuch abstatten.«
Esme richtete sich auf, als hätte sie die Posaune des Jüngsten Gerichts gehört. Sie umklammerte Helenes Arm. »Das gibt es doch nicht!«
Helene witterte Gefahr. »Was in aller Welt will Lady Bonnington von dir? Ihr Sohn befindet sich doch auf dem Kontinent. Hoffentlich will sie von dir nicht hören, was er letzten Sommer getan hat! Wenn aber doch, dann werde ich sie unverzüglich in die Flucht schlagen.« Helene wirkte so empört wie eine Gänsemutter, die ihre Kleinen beschützt.
Esme wurde kreidebleich, und ihre Knie fühlten sich an wie Gummi. »Ich glaube, gleich werde ich ohnmächtig«, flüsterte sie.
Doch dazu war keine Zeit mehr, denn Lady Bonnington höchstpersönlich stand in der Tür und sah sich im Salon um. Esme riss sich zusammen und stand auf. »Mylady«, sagte sie mit schwacher Stimme, »es ist mir eine Freude, Sie in Shantill House willkommen zu heißen.«
Die Marquise trug einen Reisemantel aus strohfarbenem Florentiner Taft, der mit weißem Satin gefüttert war. Ihr Kleid war mit schwarzer Spitze und einem hochmodischen französischen Kragen besetzt. In Esmes Augen sah sie äußerst beeindruckend, wenn nicht gar Furcht einflößend aus.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, entgegnete die Marquise, während sie Esme durch ihr Lorgnon musterte. Dies schien das Höchstmaß an höflicher Konversation zu sein, das sie aufzubringen bereit war. »Lady Rawlings, ich würde vermuten, dass die Geburt Ihres Kindes in ein bis
Weitere Kostenlose Bücher