Keine Lady ohne Tadel
zwei Tagen bevorsteht. Dennoch geben Sie allem Anschein nach eine Gesellschaft. Wie überaus merkwürdig.«
»Das ist meine Schuld«, schaltete sich Arabella ein und eilte auf die Marquise zu. »Und was für eine Überraschung, dich hier zu sehen, Honoratia! Meine Güte, wie lange ist es her, seit wir zwei die Schulbank gedrückt haben. Aber wenn ich dich vor mir sehe, kommt es mir vor wie gestern!«
»Das soll wohl ein Kompliment sein«, sagte Lady Bonnington ironisch. »Man weiß bei dir nie so genau, wie du es eigentlich meinst, Arabella.«
»Das ist wohl wahr«, gab Esmes Tante lächelnd zu. »Während du es so gut verstehst, dich klar auszudrücken. Aber was in aller Welt führt dich hierher? Womit ich nicht gesagt haben will, dass du ungelegen kämest.«
Lady Bonnington räusperte sich vernehmlich und stieß mit ihrem Stock auf. »Ich wünsche nur ein Wort mit deiner Nichte zu sprechen.« Sie sah Esme bedeutsam an. »Und zwar allein.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich Esme zu versichern und schritt bereits zur Tür. »Würden Sie mich bitte in die Bibliothek begleiten?« Sie wollte Sebastians Mutter unbedingt von ihrer Tante und ihrer Freundin fortbringen, denn beide machten den Eindruck, als platzten sie vor Neugier. Es war wieder einmal typisch für ihr Pech, dass Arabella mit Lady Bonnington die Schulbank gedrückt hatte. Sei tapfer, beschwor sie sich, während sie die Marquise in die Bibliothek führte.
»Sie sollten sich lieber setzen«, empfahl Lady Bonnington und wies mit ihrem Stock auf eine Couch. »Meine Güte, Sie sehen aus, als wollten Sie einen Wasserbüffel zur Welt bringen!«
»Das ist nicht anzunehmen«, stammelte Esme. Was für eine außerordentlich unhöfliche alte Frau! Sie setzte sich vor ihrem Gast.
»Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu sehen«, kam Lady Bonnington ohne Umschweife zur Sache.
»Sie hoffen demnach, ihn hier zu finden?«, fragte Esme mit gespieltem Desinteresse.
»Zu meinem großen Bedauern – ja.«
»Dann bedauere ich, Sie enttäuschen zu müssen. Er ist nicht hier. Er befindet sich auf dem Kontinent, soweit ich informiert bin.«
»Ich besitze gegenteilige Informationen. Er selbst hat mir gestanden, dass er in untergeordneter Stellung in Ihrem Haushalt arbeitet. Das kann ich nicht gutheißen, Lady Rawlings. Sie mögen ja früher ein leichtsinniges Leben geführt haben, aber ich kann Ihnen versichern, nach dieser neuesten Eskapade werden Sie unwiderruflich aus der Gesellschaft ausgestoßen.«
»Eskapade?«, rief Esme. »Er hat die Stellung ohne mein Wissen angenommen. Und dann wollte er einfach nicht gehen!«
»So viel habe ich mir schon gedacht«, sagte Lady Bonnington merkwürdig befriedigt. »Ich habe in den letzten Tagen über nichts anderes nachgedacht. Es ist das Blut, das die Oberhand gewinnt.«
»Ach ja? Und welches Blut meinen Sie, Madam?«
»Das Blut meines Vaters. Mein Vater war ein Mann, der sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben ließ. Er neigte zu starkem Eigensinn. Ich hätte nie gedacht, dass mein Sohn etwas von ihm geerbt haben könnte, doch jetzt zeigt es sich. Selbstverständlich weigert er sich zu gehen. Mein Vater hätte das auch getan.«
»Das mag durchaus sein, doch Ihr Sohn steht nicht länger in meinen Diensten«, betonte Esme.
»Er hat doch tatsächlich versucht, mich hinters Licht zu führen«, sagte Lady Bonnington versonnen. Nun war ihre Befriedigung mit Händen zu greifen. »Hat mir eine Menge Unsinn erzählt und etwas von Liebe vorgefaselt. Ich habe ihn jedoch nicht großgezogen, um solche Gefühlsduseleien ernst zu nehmen. Danach habe ich die halbe Nacht wach gelegen und mich gefragt, ob er vielleicht verrückt geworden ist, weil er den Tod Ihres Mannes auf dem Gewissen hat. Aber das klang mir nicht plausibel.«
Sie beugte sich vor, und ihre grauen Augen hatten den stechenden Ausdruck eines Adlers, der ein Kaninchen erspäht. »Es ist sein Kind, nicht wahr?«
Esme öffnete den Mund, doch ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen.
»Nicht wahr?!«, donnerte die Marquise und stieß mit ihrem Stock auf den Boden.
Esme verengte die Augen. »Nein, es ist nicht sein Kind«, entgegnete sie kühl.
»Papperlapapp«, meinte Lady Bonnington. »Mein Sohn ist kein Dummkopf. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass er nicht zufällig in das falsche Schlafzimmer geraten ist. Er ist in Ihr Zimmer gekommen, weil Sie eine Affäre mit ihm hatten. Ihr Gatte war vermutlich nur dort, weil er Ihnen einen
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