Keine Lady ohne Tadel
Gekränktheit lag in seiner Stimme.
»Einer der Arbeiter, Rogers, stiehlt Schieferplatten und verkauft sie im Dorf«, verriet Sebastian dem Butler. »Vielleicht möchten Sie dem Vorarbeiter einen Wink geben? Übrigens scheide ich aus Lady Rawlings’ Diensten, Sie müssen also die Stelle des Gärtners neu besetzen.«
Wieder verneigte sich Slope. »Ich bin Ihnen für den Hinweis äußerst dankbar, Mylord. Darf ich Sie nun zum Seiteneingang führen?«
»Ich bin es, der Ihnen zu danken hat«, protestierte Sebastian freundlich und schritt in der Morgendämmerung davon.
16
Die unerwartete Freude Ihres Besuchs
Esme legte sich eine Stunde lang Kompressen auf die Augen, doch es half nichts gegen die Schwellungen. Als Arabella sie sah, empfahl sie eine Gurkenmaske, die ebenso wenig half. Und für ein gebrochenes Herz, so vermutete Esme, gab es wohl erst recht keine Medizin. Ich habe ihn fortgeschickt, weil es sein musste, redete sie sich ein. Das Problem war nur, dass Sebastian tatsächlich fortgegangen war. Und das Schlimmste war diese kleinliche, gemeine Stimme in ihrem Hinterkopf, die unaufhörlich flüsterte: Er wäre nicht gegangen, wenn er dich wirklich liebte! Wenn er dich wirklich …
Und dann strömten die Tränen wieder. Warum sollte Sebastian anders sein als die anderen Männer in ihrem Leben? Miles hatte sie nie wirklich geliebt. Sebastian behauptete, dass er sie liebe, und vielleicht entsprach das auch der Wahrheit. Dennoch hatte Esme das Gefühl, dass ihr ein Pfeil durchs Herz gejagt wurde. Wenn Sebastian sie liebte, ehrlich liebte, dann wäre er unter keinen Umständen fortgegangen. Wusste er denn nicht, wie viele Frauen bei der Geburt ihres Kindes starben? Oder war ihm das gleichgültig?
Der Schmerz in ihrer Brust gab die Antwort: Es war ihm nicht gleichgültig. Es war ihm nur nicht so wichtig.
Du hast Miles durch deine Skandale vertrieben,
dachte Esme trübsinnig. Und jetzt hast du Sebastian fortgejagt, damit es gar nicht erst zu einem Skandal kommt. Aber im Grunde war die Situation ähnlich: Hätte nur einer der beiden sie ehrlich und wahrhaftig geliebt, dann hätte er sich nicht vertreiben lassen, sondern um sie gekämpft. Doch Miles hatte höflich lächelnd andere Frauen umworben, andere Schlafzimmer aufgesucht … und Sebastian verzog sich auf den Kontinent, um ihren Ruf zu retten. Offensichtlich war sie der Typ Frau, den Männer leichten Herzens verlassen konnten.
Die Tränen strömten nun so reichlich, dass Esme glaubte, sie würden nie wieder aufhören. Doch schließlich nahm sie sich zusammen und legte frische Gurkenkompressen auf. Eine Stunde später erwog sie sogar, nach unten zu gehen, und sei es auch nur, um Helene zu sehen. Denn Esme wollte natürlich wissen, wie es ihrer Freundin in der letzten Nacht ergangen war.
Falls sie Fragen gehabt hatte, so waren diese in dem Augenblick beantwortet, als sie das Wohnzimmer betrat. Helene sah glücklicher aus denn je. Sie spielte Schach mit Stephen Fairfax-Lacy. Das angemessene Spiel für Menschen ihrer Intelligenz. Esme kannte nicht einmal die Regeln.
»Hallo«, grüßte sie die beiden. Stephen sprang sogleich auf und überließ ihr seinen Stuhl. Dankbar nahm Esme Platz, während Helene Stephen mit einem Lächeln bedeutete, er könne sich entfernen. Er verneigte sich und drückte einen Kuss auf ihre Handinnenseite, dann schlenderte er davon. Die beiden hatten sehr rasch einen hohen Grad an Vertraulichkeit erreicht. Wie denn auch nicht – immerhin hatten sie ja das Bett miteinander geteilt.
»Esme!«, sagte Helene mit strahlendem Lächeln. »Käme es dir sehr ungelegen, wenn wir Rees auf eine Stippvisite einladen würden?«
Esme starrte die Freundin verblüfft an. Sie musste sich verhört haben. »Rees? Du meinst doch nicht Rees, deinen Ehemann?«
Helene lachte. »Doch, diesen Rees.«
»Von mir aus lade ein, wen immer du willst«, brummte Esme. Schlecht gelaunt sah sie sich im Salon um. Winnamore und Arabella übten ein Duett am Spinett. Bea widmete sich erstaunlicherweise einer so weiblichen Tätigkeit wie dem Sticken. »Es kümmert ohnehin keinen, dass ich vor meiner Niederkunft der Ruhe pflegen sollte, warum also sollte es mich stören?«
Helene sah ihre Freundin betroffen an. Was war denn bloß mit Esme los? Sie wirkte vollkommen abgespannt und war offensichtlich verstimmt. »Wie taktlos von mir«, sagte sie reumütig. »Natürlich werde ich Rees nicht einladen. Was ist mit dir, Esme?«
Esme knirschte mit den Zähnen. Ihre Nerven waren
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