Keine Lady ohne Tadel
Zweifellos glaubte er, er könne ohne Umschweife wieder in ihr Schlafzimmer kommen. Ohne auch nur einen Gedanken an ihren Ruf, das Wohlergehen ihres Kindes oder ihre Zukunft zu verschwenden.
»Aha, Bonnington«, sagte seine Mutter. »Da bist du ja.« Es klang, als sei der Marquis nur eben mal beim Pferderennen gewesen.
Er jedoch wartete höflich auf die Begrüßung durch die Gastgeberin. Esme ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnte er es wagen, nach Belieben in ihrem Haus ein und aus zu gehen – schamlos wie damals in Lady Troubridges Haus, als er in ihr Schlafgemach gekommen war!
»Lord Bonnington«, sagte sie und neigte leicht den Kopf. »Welch eine Freude, Sie nach so vielen Monaten wiederzusehen!« Sie legte eine Hand auf Stephen Fairfax-Lacys Schulter. Er hatte breite Schultern. Esme war beinahe sicher, dass er ein ebenso guter Liebhaber war wie Sebastian. Und bei Weitem nicht so anstrengend.
Fairfax-Lacy schaute auf. Esme schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Der Marquis ist just in dem Augenblick zu uns gestoßen, in dem ich eine wichtige Ankündigung zu machen gedenke. Darf ich Ihnen meinen Verlobten Mr Fairfax-Lacy vorstellen?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen im Saal.
Dann machte Sebastian eine schwungvolle Verbeugung, in der verhaltener Zorn mitschwang. Seine Augen wirkten im Licht der Kerzen rabenschwarz, und Esme hatte das Gefühl, von ihnen versengt zu werden. »Dann scheine ich ja gerade rechtzeitig zur Feier des freudigen Ereignisses gekommen zu sein«, sagte er, und sein sardonischer Ton war für alle Anwesenden deutlich zu vernehmen.
Esme schluckte hart und verstärkte den Griff um die Schulter ihres frischgebackenen Verlobten. Sie hatte immer schon zu unüberlegten Einfällen geneigt, doch dieser war mit Abstand der gewagteste von allen.
»Was für eine wunderbare Überraschung!«, rief die Marquise Bonnington aus. Offenbar sah sie ihres Sohnes Freiheit in greifbare Nähe gerückt.
»Ja, in der Tat«, schloss Helene sich an, wobei sie Esme einen dunklen, aber beredten Blick zuwarf. Ich kann diesen Mann auch gebrauchen, weißt du noch?
Selbst die kleine Bea schien erschüttert zu sein, doch sie sagte keinen Ton. Und zu Esmes ungeheurer Erleichterung äußerte auch der brandneue Verlobte keinerlei Erstaunen.
20
Zwanzig Minuten später … endlich allein
»Sie müssen mich nicht unbedingt heiraten. Immerhin haben Sie mir auch keinen Antrag gemacht.«
»Der Meinung bin ich allerdings auch!«
»Eigentlich braucht auch niemand zu wissen, dass wir verlobt sind …«
»Das sind wir ja auch gar nicht!«
»Aber würde es Ihnen schrecklich zuwider sein, wenn wir immerhin so täten?«
Stephen Fairfax-Lacy war fassungslos. Nach zwanzig Jahren eines mehr oder minder langweiligen Junggesellenlebens schien er jetzt ungeahnte Höhen der Beliebtheit erreicht zu haben. »Lady Rawlings …«
»Oh, bitte, sagen Sie doch Esme zu mir! Immerhin sind wir –«
»Verlobt«, fiel er ihr ins Wort. Gegen seinen Willen musste er grinsen. »Dann sagen Sie aber bitte Stephen zu mir.«
»Danke schön«, sagte sie, sichtlich erleichtert.
»Aber ich muss darauf bestehen, Esme, dass Sie mir den Grund für unsere Verlobung nennen.«
Esme rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und verschränkte die Hände. Stephen hatte dieses Manöver schon unzählige Male beobachtet. Es war das Verhalten von Abgeordneten, die von der gegnerischen Partei umworben worden waren und schließlich gestehen mussten, dass sie ihre Stimme bereits vergeben hatten.
»Esme?«
»Vielleicht haben Sie gehört, dass der Marquis Bonnington und ich – äh –« Sie quälte sich, also kam Stephen ihr zu Hilfe.
»Natürlich weiß ich, dass Sie letztes Jahr bei Lady Troubridges Gesellschaft ein unerfreuliches Erlebnis hatten, in dessen Verlauf Ihr Ehemann unglücklicherweise einen Krampf erlitt und verstarb.«
Esme nickte. »Sie drücken es wirklich kurz und bündig aus.«
Stephen wartete. Esme schaute ihn an, dann schlug sie die Augen nieder. »Ich hatte eine Affäre mit ihm. Mit dem Marquis«, präzisierte sie.
Stephen überlegte kurz. »In diesem Falle kann ich verstehen, dass er vom Kontinent zurückgekehrt ist. Er hat erst vor Kurzem erfahren, dass Sie in anderen Umständen sind?«
»Er möchte die Ereignisse vom letzten Sommer wieder gutmachen. Der Marquis ist der Meinung, dass ihn eine Eheschließung von seiner Schuld befreien wird.«
»Schuld ist ein interessanter Begriff«, sinnierte Stephen. »Ich wünschte, ich
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