Keine Lady ohne Tadel
seine Augen blickten bewundernd.
Wieso auch nicht?,
dachte Bea. Wenn man die Auswahl der im Hause befindlichen Frauen bedachte – Helene, sie selbst und Esme – welcher Mann würde sich dann nicht für Esme entscheiden?
»Die Julia in der Parodie stürzt beinahe vom Balkon, so sehr sehnt sie sich nach Romeo«, erzählte Esme, während ihre Augen Bände sprachen. Bea erwog, Magenschmerzen vorzuschützen und die Tafel zu verlassen.
Die Marquise Bonnington hatte den bemalten Fächer einer gründlichen Besichtigung unterzogen und ließ ihn nun geräuschvoll zuschnappen. »Das klingt aber ganz und gar nicht nach Shakespeare.«
»Erzählen Sie uns doch noch mehr davon«, drängte Stephen.
Wenn er noch näher an sie heranrückt, kann er ihre Locken anknabbern,
dachte Bea. Wie die Ziege.
»Ich erinnere mich nur noch an ein, zwei Stellen«, gestand Esme und schürzte ihre dunkelroten Lippen verführerisch. Bea versetzte es einen Stich.
»Romeo steht unter dem Balkon und brüllt zu Julia hinauf«, erzählte Esme. »Und sie fragt:
Wer ist da?
«
Stephen hatte heimlich einen Blick auf Bea geworfen. Sie wirkte … gequält. Vielleicht sogar … verwundet? Nein, das war ein zu starkes Wort. Mit voller Absicht erwiderte er Esmes glühende Blicke. »Und was antwortet Romeo?« Er machte seine Stimme tiefer, schnurrte geradezu.
Esme lächelte strahlend in die Tischrunde. »Ich hoffe, ich bringe damit niemanden in Verlegenheit.«
»Das wohl kaum«, meinte Lady Bonnington säuerlich. »Nach den überraschenden Enthüllungen des vergangenen Monats gibt es nicht viel, was mich noch schockieren könnte.«
»Die Szene spielt, wie Sie sich vielleicht erinnern, in aller Herrgottsfrühe. Julia sagt:
Wer, Romeo? Oh, du bist wahrlich ein Hahn! Wer hätte gedacht, dass du so früh aus den Federn fällst?
«, zitierte Esme mit vollkommener Unschuldsmiene und befriedigtem Gesichtsausdruck.
Einen Moment herrschte Stille, dann brach Stephen in schallendes Gelächter aus. »Ich möchte wetten, dass Romeo unverzüglich an der Weinranke emporgeklettert ist!«
»Nein, Julia erlaubt es nicht«, entgegnete Esme. Ihre Augen funkelten vor Vergnügen, und ihre schlanke Hand ruhte auf Stephens. »Die nächste Zeile, an die ich mich erinnere, lautet ungefähr so:
Nein, meiner Treu, bleib unten, denn ihr Ritter seid gar so gefährlich, wenn ihr’s erst nach oben geschafft.
«
Wieder musste Stephen lachen. Dann neigte er seinen Kopf und flüsterte Esme etwas zu, offensichtlich ein Kompliment, nur für ihre Ohren bestimmt. Vermutlich schlug er vor:
Gehen wir doch nach oben
. Bea kaute gewissenhaft und schluckte ihren Fleischbrocken herunter. Vielleicht würde Arabella erlauben, dass sie morgen nach London abreiste. Mit Eifersucht hatte das nichts zu tun, sie war nicht die Spur eifersüchtig. Es war nur so traurig, dass kein Mann Esme widerstehen konnte, und Stephen schon gar nicht. Immerhin hatte er ihr ja von seiner Hoffnung auf eine Vermählung erzählt.
In diesem Augenblick beugte sich Slope über Esmes Schulter und unterbrach ihr
tête-à-tête
mit Stephen. Bea starrte auf ihren Teller. Sie mochte Esme. Sie mochte sie wirklich.
»Mylady«, sagte Slope leise in Esmes Ohr. »Wir haben einen unerwarteten Gast.«
»Bitten Sie ihn herein«, erwiderte Esme ein wenig zerstreut. Sie hatte ganz vergessen, wie anregend Flirten war. Sie amüsierte sich prächtig. Eine volle halbe Stunde hatte sie nicht mehr an den elenden Sebastian gedacht. Arabella hatte recht: Stephen Fairfax-Lacy war charmant und geistreich. Außerdem sah er einigermaßen gut aus. Sie war schon fast entschlossen, ihn zu heiraten. Natürlich musste sie zuerst herausfinden, ob Helene ihn nicht für sich haben wollte.
Slope stellte fest, dass der unerwartete Gast ihm in den Speisesaal gefolgt war und dass seine Herrin ihn noch nicht bemerkt hatte. Er straffte sich und verkündete: »Der Marquis Bonnington.«
Esme fuhr auf. Und da war er.
Kein Gärtner hatte jemals einen solchen taubengrauen Anzug aus feinstem Tuch getragen und dazu eine sorgfältig geknüpfte blassblaue Krawatte. Nun war Sebastian wieder ganz der Marquis, von seinen elegant zerzausten Haaren bis zu den Spitzen seiner glänzend polierten Reitstiefel.
Am Tisch erhob sich Gemurmel. Der skandalbehaftete Marquis war vom Kontinent zurückgekehrt! Oder vielmehr – doch das wusste niemand – aus dem Garten.
Esme begegnete seinem Blick. Er musterte sie amüsiert, was ihren schwelenden Zorn zum Überkochen brachte.
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