Keine Lady ohne Tadel
französischen Weinbergen heimkehrt.
Warum sollte Esme um diesen Mann weinen? Eine heftige, hilfreiche Wut begann die leeren Räume ihres Herzens zu füllen. Es war seine Schuld, dass sie gezwungen war, seine Mutter als Gast in ihrem Hause aufzunehmen. Es war seine Schuld, dass sie ein monströs großes Kind im Leibe trug (auch wenn das unlogisch war). Und schließlich war es seine Schuld, dass sie ohne Ehemann dastand und sich in der peinlichen Lage befand, nicht zu wissen, wer der Vater ihres Kindes war.
Im Grunde war Sebastian der alleinige Verantwortliche für ihre peinliche Lage, und es war bedauerlich, dass er nicht mehr da war, damit sie ihm tüchtig die Meinung sagen konnte. Selbst wenn Sebastian in diesem Augenblick in meinem Schlafzimmer stünde, sagte sich Esme, dann würde ich ihm lediglich mitteilen, dass sein Versuch, sich für immer in meine Haut und mein Gedächtnis einzubrennen, vollkommen fehlgeschlagen ist. Dass dieser Versuch mir nur Rückenschmerzen eingebracht hat sowie den Wunsch, ihn nie mehr zu sehen. Sie biss die Zähne zusammen, um einen neuerlichen Tränenstrom zu unterdrücken.
Erinnerte er sich jedoch ebenso gut wie sie an jene Nacht, dann würde er ihr das nicht abnehmen. Was sollte sie tun? Vielleicht vor seinen Augen wie verrückt flirten? Oder noch einen Schritt weitergehen? Hielt er sie etwa für eine leichtfertige Frauensperson, die ihm erlaubte, ganz nach Belieben in ihrem Schlafzimmer ein und aus zu gehen? Eine Heirat wäre die Lösung. Und zwar musste sie sich verheiraten, bevor er aus Frankreich zurückkehrte und glaubte, das Spiel dort wieder aufzunehmen zu können, wo er es unterbrochen hatte.
Vielleicht würde sie Fairfax-Lacy heiraten. Tante Arabella war ja so freundlich gewesen, ihn zu diesem Zweck mitzubringen. Helene sah nicht wie Fairfax-Lacys Geliebte aus … Esme hatte in ihrem Leben genug heimliche Liebespaare gesehen, um die Anzeichen beurteilen zu können. Folglich gab es keinen – überhaupt keinen – Hinderungsgrund, diesen sehr passenden Mann zu heiraten. Mama wäre höchst zufrieden. Esme nahm mit Recht an, dass Fanny sie erst dann wieder empfangen würde, wenn sie einen respektablen Mann heiratete. Sebastian gehörte ganz sicher nicht in diese Kategorie. Aber ihn wollte sie ja ohnehin nicht heiraten!
Fairfax-Lacy besaß einen untadeligen Ruf. Außerdem sah er auf eine echt englische Art gut aus. Sebastians kantige Schönheit war seine Sache nicht. Nein, Fairfax-Lacy wäre der vollkommene Ehemann. Ihre Mutter würde ihn anbeten. Mr Fairfax-Lacy hätte sie niemals kurz vor ihrer Niederkunft im Stich gelassen!
Denn das war der springende Punkt: Sebastian schien gar nicht zu begreifen, wie viel Angst eine Frau vor der Geburt hatte. Er liebte sie nicht genug, um diese Angst mit ihr zu teilen. Esme weinte wieder eine Weile und stellte dann zornig fest, dass sie auch weinte, weil ihre Mutter nicht bei ihr war.
Keiner kümmert sich um mich,
dachte sie wütend, wobei sie praktischerweise Arabella und Helene vergaß.
Esme ging nicht zum Luncheon hinunter, sondern steigerte sich in eine kindische Verzweiflung hinein. Am Spätnachmittag hatte sie ihr Herz jedoch wieder im Griff. Natürlich würde sie nicht bei der Geburt sterben! Alles würde gut gehen. Es war nicht zu ändern, wenn Sebastian sie nicht so liebte, wie sie es sich wünschte. Besser war es, gar nicht mehr daran zu denken. Sie läutete und bat Jeannie, noch eine Gurkenmaske für ihre Augen zuzubereiten.
Als Esme am Abend endlich hinunterging, hatten sich ihre gesamte Wut und Trauer zu einer einzigen Frage verdichtet: War Stephen Fairfax-Lacy tatsächlich der passende Ehemann? Sie glaubte nicht, dass er ihren Bauch übersehen konnte, wie Sebastian es tat. In ihrem gegenwärtigen Zustand würde er sie kaum begehrenswert finden. Doch sie konnte immerhin feststellen, ob es sich lohnte, ein Leben lang mit ihm Dinner-Konversation zu machen.
Und so kam es, dass Stephen Fairfax-Lacy, der entgegen aller Hoffnung hoffte, eine gewisse Dame werde ihm Avancen machen, zu seiner großen Überraschung feststellen musste, dass seine Gastgeberin offenkundig denselben Entschluss gefasst hatte. Und eine Lady Rawlings war sogar im neunten Schwangerschaftsmonat eine beeindruckende Verehrerin.
Selbstredend saß sie am Kopf der Tafel, doch sie nötigte ihn, zu ihrer Rechten Platz zu nehmen. Und kaum saß Stephen, da beugte sich Lady Rawlings zu ihm hinüber und schlug einen vertraulichen Ton an. In ihren Augen lockte ein
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