Keine Lady ohne Tadel
laszives Lächeln, das jeden Mann unter siebzig sofort an ihr Schlafzimmer denken ließ. Doch erst als Lady Beatrix Lennox ihm gegenüber an der Tafel Platz nahm, begann Stephen sich zu amüsieren. Als Bea sich setzte, zeigte ihm Esme – so solle er sie doch bitte anreden – gerade die komplizierte Bemalung auf der Rückseite ihres Fächers. Bea wirkte leicht verstimmt. Sogleich rückte Stephen näher an Esme heran und beugte seinen Kopf über den Fächer.
Schließlich war er ein alter Hase in der Kunst des Wählerfangs.
»Das sind doch Romeo und Julia, nicht wahr?«, sagte er zu Esme, während er die Darstellungen auf ihrem Fächer begutachtete.
»Ganz recht. Hier sehen Sie« – eine ihrer Locken streifte seine Wange – »Romeo unter dem Balkon, wie er zu Julia hochschaut. Bea, möchten Sie es auch einmal sehen? Die Ausführung ist sehr elegant.«
Die Marquise Bonnington saß zu Stephens Rechter. »Meine Güte, was für eine Hennengesellschaft!«, rief sie aus. »Warum hat Arabella nicht für Ausgewogenheit zwischen Damen und Herren gesorgt, als sie die Einladungen verschickte?«
Esme blickte auf und verfiel sogleich in den desinteressierten Tonfall höflicher Konversation. »Das weiß ich auch nicht, Lady Bonnington. Ich glaube aber, dass der Earl of Godwin morgen eintreffen wird. Seine Anwesenheit wird für mehr Ausgewogenheit sorgen.«
»Hmf«, machte Lady Bonnington. »Je weniger über diesen Schurken gesprochen wird, desto besser. Was ist denn auf diesem Fächer zu sehen, den Sie so aufmerksam betrachten, Lady Beatrix?«
Bea schaute verwirrt auf. »Romeo und Julia«, murmelte sie. Etwas Seltsames geschah hier. Während sie vorgab, den Fächer zu mustern, schielte sie verstohlen über den Tisch. Esmes Schwangerschaftsbauch war hinter dem Tischtuch verborgen, und sie war eine der typischen Londoner Schönheiten … wobei es jedoch davon nur wenige gab, die Esme das Wasser reichen konnten. Und ganz offensichtlich hatte diese schöne Frau beschlossen, Stephen Fairfax-Lacy zu umgarnen. Ihren Stephen. Oder vielmehr hatte Esme beschlossen, dem Rat ihrer Tante zu folgen, und Stephen zu heiraten. Jeder Gedanke an Verführung musste ihr natürlich in ihrem derzeitigen Zustand fernliegen.
Nachdem Bea das Manöver durchschaut hatte, sank ihr der Mut. Esmes Haar war zu einem losen Knoten geschlungen, und ihre dichten, seidigen Locken umspielten Schultern und Wangen. Sie trug ein Kleid aus violetter französischer Seide, das tief ausgeschnitten war und sehr kurze Ärmel hatte. Wichtiger aber war ihre Ausstrahlung: Sie glühte förmlich vor Sinnlichkeit.
»
Romeo und Julia
, haben Sie gesagt?«, bellte Lady Bonnington.
»Die Balkonszene«, erläuterte Bea. Sie riss sich zusammen und reichte den Fächer weiter. Sie hatte gewiss nicht vor, um Stephen zu werben. Deshalb spielte es keine Rolle, wenn Esme sich dieses Ziel gesetzt hatte. »Ich habe diese Szene immer reichlich absurd gefunden.«
»Und warum?«, fragte Stephen.
Bea musterte ihn. Was war es nur, das alle Frauen in seiner Nähe dazu brachte, ihm schöne Augen zu machen. Zugegeben, er sah gut aus, aber sie hatte schon schönere Männer gesehen. Irgendwo. Stephen erwartete offenkundig eine Antwort, deshalb zuckte sie die Achseln. »Romeo schmachtet Julia an wie ein liebeskranker Halbwüchsiger.«
»Ihr Urteil klingt ein wenig streng. Immerhin ist er verliebt.«
»Er kennt Julia doch erst seit zwanzig Minuten! Aber Sie haben recht, er bildet sich ein, verliebt zu sein. Ich finde es übrigens recht merkwürdig, dass Julia ihn fragt, ob er sie heiraten will, und wenn ja, wo.«
Esme lächelte. »Was für eine außergewöhnliche Art der Betrachtung. Natürlich kenne ich
Romeo und Julia
, aber ich habe nirgendwo gelesen, dass Julia ihm einen Antrag macht.«
»
Wenn deine Liebe, tugendsam gesinnt, Vermählung wünscht
«, zitierte Bea,
»so lass mich morgen wissen …
Julia fragt ihn ganz unverblümt, ob er sie heiraten wird, obwohl er vorher nicht einen Ton davon gesagt hat.«
Esmes Augen richteten sich mit einem bedeutsamen Lächeln auf Stephen. Bea drehte sich fast der Magen um. Esme war so schön! Es war nicht zum Aushalten. Bea hätte sich die Wangen in allen Regenbogenfarben anmalen können, doch nie hätte sie die Sinnlichkeit erreicht, die Esme in einen einzigen Blick legen konnte.
»Ich habe einmal eine köstliche Parodie der Balkonszene gesehen«, tat Esme mit ihrer heiseren, sinnlichen Altstimme kund.
»Ach ja?« Stephen neigte sich zu ihr, und
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