Keine Pizza für Commissario Luciani
nicht zu beschädigen. Das Erdreich hielt
das Bündel fest in seinen Klauen und wollte es nicht wieder hergeben, aber als Marietto schließlich die Plane und den Pullover,
in die er eingewickelt war, entfernte, erschien ein befriedigtes Lächeln auf seinem Gesicht. Der Kopf war gut erhalten, nicht
zerbrochen. Die leeren Augenhöhlen schienen nach Rache zu schreien. Der |365| Genueser deckte ihn mit dem Lumpen wieder zu und steckte ihn, immer noch ganz behutsam, in den blauen Sack. Um die offene
Grube scherte er sich nicht, er wollte die Sache jetzt so schnell wie möglich zu Ende bringen. Seine Feinde warteten irgendwo
auf ihn. Er musste zurück zum Boot, die Augen offenhalten, die Pistole griffbereit.
|366| Einundsechzig
Luciani
Ventotene, April
Als Luciani an diesem Abend in T-Shirt und kurzer Hose auf der ansteigenden Straße zwischen Feldern voller Kopfsalat und Linsen
ins Hinterland von Ventotene rannte, dachte er an des Ministers Einlassungen über das Leiden zurück. So ungern er sich das
eingestand, musste er ihm teilweise doch beipflichten: Die weltliche Mentalität hatte die Oberhand gewonnen. Und trotzdem
setzten die Leute sich weiterhin einem gewissen Maß an Peinigung aus, in der Hoffnung auf einen alles andere als sicheren
Lohn: Diäten um der guten Figur willen, Krafttraining für einen gestählten Oberkörper und in seinem Fall das Lauftraining
für das erhoffte Glücksgefühl, eines Tages einen Marathon bestreiten zu können. Wenn du während des Trainings nicht leidest,
wirst du im Rennen nichts bringen. Wenn du bei der Prüfung durch das irdische Dasein nicht leidest, wirst du dir das ewige
Leben nicht verdienen. Marco Luciani mochte die Kirche nicht, und er misstraute den Priestern, aber er glaubte an eine höhere
Ordnung. Er hatte einmal gehört, der Tod sei nicht der Gegenpol des Lebens, sondern der Geburt; diesen Satz hätte er sofort
unterschrieben. Es gab etwas in uns, was der Fleischwerdung vorausging und was den Zerfall des Fleisches überdauern würde.
Und es war dieses Etwas, das uns die Gerechtigkeit lieben und begehren ließ, so wie wir eine bildschöne Frau lieben. Dieses
Etwas konnte uns zu besseren Menschen machen, entglitt uns aber ständig, weil es einem einzelnen Menschen nicht gegeben war,
und auch nicht allen.
Wir sind ein Haufen selbstsüchtigen Fleisches, das |367| wusste er nur zu gut. Sah er doch jeden Tag Leute, die ihre Triebe nicht zu zügeln verstanden. Vergewaltiger. Mörder. Männer,
die ihre Frauen und Kinder schlugen. Vorstadtrowdys, die Keilereien anzettelten. Säufer, die mit zweihundert Sachen durch
die Gegend bretterten. Pfaffen, die sich an Kindern vergriffen, stinkreiche Ärzte, Politiker und Banker, die nur immer noch
mächtiger und reicher werden wollten.
Es hatte eine Epoche gegeben, in der der Mensch permanent Gottes Auge auf sich ruhen spürte. Das half, niedere Instinkte im
Zaum zu halten. Und falls das nicht genügte, dann war die Strafe unausweichlich und fürchterlich: Gefängnis, Zwangsarbeit
und Tod. Das Exempel ist fundamental. Die Versuchskaninchen in den Labors erkennen an den Schmerzen ihrer Kameraden, auf welchem
Weg man unbescholten am Stromstoß vorbeikommen kann. Aber wer glaubte heute noch an Gott? Wer glaubte wirklich an ihn? An
die Teufel mit ihrem Dreizack, an die ewige Marter? An die Vorstellung, dass man für immer in den Flammen der Hölle schmorte?
Uns wurde das Bild von einem guten Gott eingeimpft, von einem Gott der Liebe, dachte Luciani. Und da wir nach seinem Ebenbild
geschaffen sind, ist es logisch zu denken, dass auch wir gut sind. Wenn wir Fehler machen, dann ist das nur Pech, Schwäche
oder Schuld der Gesellschaft, der Armut und der Unbildung. Und wenn wir aus diesen Gründen fehlen, wäre es absurd, wenn Gott
uns bestrafte, noch dazu auf immer und ewig. Aber wenn Gott uns nicht bestraft, wie können wir es dann tun? Mit welcher Befugnis?
Das ist der Grund, warum es so weit mit uns gekommen ist, dachte er verbittert. Bis zur »Freiheit für alle«. Die Mordfälle
nehmen zu, das Strafmaß nimmt ab. Und umgekehrt. Ein Naturgesetz.
Vielleicht war letztlich das Problem, dass das Glück überschätzt |368| wurde. Das Glücksgefühl, das wir meinen, ist nur Mühelosigkeit, der bequemste Weg, der, der uns adäquat erscheint. Und um
seinetwillen fügen wir den anderen die schlimmsten Dinge zu.
Ich weiß wenigstens, dass ich nicht gemacht bin, um glücklich zu
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