Keine Pizza für Commissario Luciani
Geschichte ihn so aufregt. Soweit ich verstanden habe, geht es um das Gefängnis Santo
Stefano.«
Die Direktorin nickte.
»Das stimmt. Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht sagen, wenn er es nicht selbst getan hat … Ihr Onkel hat eine Tätowierung,
die aus jenem Gefängnis stammt.«
»Eine Tätowierung?«
»Ja. Eine große Tätowierung auf der Brust. Gaetano hat es mir gesagt, er hat sie gesehen. Er hat sich nicht getraut, ihm Fragen
zu stellen, aber er hat gesehen, dass zwei Daten eintätowiert sind: 1960–1965.«
»Dann hat das also mit den Faschisten gar nichts zu tun«, dachte sie laut. »Es kam mir sowieso merkwürdig vor.«
Die Direktorin nickte. »Es ist höchst merkwürdig, wie das Gedächtnis alter Menschen arbeitet. An manches erinnern sie sich
ganz genau, anderes vergessen oder vermengen sie. Und bestimmte Erfahrungen können sie, wenn sie unvermittelt wieder hochkommen,
total aus der Bahn werfen.«
Marina seufzte. »Vielleicht habe auch ich ihn aus der Bahn geworfen. Im Grunde hat er erst vor kurzem von meiner Existenz
erfahren, und die Geschichte seines Bruders … Entschuldigen Sie«, fügte sie hinzu, als ihr einfiel, dass sie eine Schwester
vor sich hatte.
|86| »Hören Sie, Signorina, heute sollten Sie besser nicht mehr zu ihm ins Zimmer. Lassen wir ihn ausruhen. Sobald es Ihrem Onkel
bessergeht, können Sie ihn wieder besuchen.«
Sie dachte einen Moment nach. So wie der Alte sich jetzt fühlte, konnte sie sicher sowieso nicht mit ihm sprechen. »Einverstanden.
Ich rufe in den nächsten Tagen an, um zu hören, wie es ihm geht.«
»Habe ich Ihre Telefonnummer? Eine Adresse? Ich möchte nicht pessimistisch sein, aber falls sein Zustand sich verschlimmern
sollte …«
»Natürlich. Allerdings fahre ich demnächst in Urlaub. Ich verreise ins Ausland und werde kein Handy mitnehmen. Ich lasse Ihnen
meine E-Mail-Adresse da, die müsste ich kontrollieren können.«
Gaetano fuhr aus dem Schlaf hoch. Er öffnete die Augen und sah im Halbdunkel, dass Marietto aufgestanden war, seinen Spind
geöffnet und kontrolliert hatte, ob alles am rechten Ort war. Schon zum dritten oder vierten Mal in dieser Nacht.
»Geh wieder ins Bett, Marietto. Keiner hat dir was geklaut, sei ganz beruhigt.«
Von wegen, sei beruhigt, dachte dieser. Gaetano hatte ja nichts Wertvolles, nichts, was sie ihm klauen konnten. Er dagegen
hatte einen Schatz zu verteidigen, und die Faschisten waren nah. Er trat ans Fenster und schaute hinunter auf den Parkplatz.
Drei Autos, keines davon verdächtig. Sie waren schlau, sie lagen irgendwo auf der Lauer und warteten, bis er abgelenkt war
und zur leichten Beute wurde. Aber er war schlauer als sie. Er würde einen Schachzug machen, mit dem sie nicht rechneten.
|87| Fünfzehn
Luciani
Genua, heute
Am 31. Dezember, Punkt neun Uhr, machte Marco Luciani den x-ten Rundgang durch die Wohnung. Er konnte einfach nicht fassen,
wie viel Zeug er angesammelt hatte und wie viel er schon weggeworfen hatte. Die letzten fünf großen Müllsäcke füllten den
Flur. In die einzige weiße Tüte, aus steifem Papier, hatte er Bettlaken, Decke, Pyjama und Zahnbürste gesteckt. Sonst musste
er nichts mitnehmen: Kleider, Schuhe und Sportsachen hatte er schon in den letzten Tagen ins Auto geladen und zur Villa Patrizia
geschafft, genau wie die Stereoanlage. Den Rest – Möbel, Töpfe, Lampen, Matratze und Pflanzen – hatte er beim Einzug in der
Wohnung vorgefunden, und er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie zu erneuern. Der Jahreswechsel und der Umzug hatten ihn melancholisch
und übellaunig gestimmt, und das wollte er bleiben, er wollte sich noch ein wenig im Selbstmitleid suhlen. Jetzt, da die Bauarbeiter
Urlaub machten, herrschte eine wundervolle Stille, und außerdem war er sowieso als einziger Bewohner des Gebäudes übrig geblieben.
Die Alte über ihm war ins Heim abgeschoben worden, und der Neapolitaner unter ihm hatte die Abfindung der neuen Hauseigentümer
eingestrichen und es sich ein paar Straßen weiter in einer Sozialwohnung gemütlich gemacht. Keiner hatte so lange durchgehalten
wie der Kommissar, wenn er es auch eher aus Faulheit denn aus Prinzip getan hatte. Als ihm die Kündigung zugestellt worden
war, hatte er beschlossen, sich eine andere Wohnung zu suchen, aber in den Vierteln am Meer waren die Mieten zu hoch. Also
hatte er mit dem Gedanken gespielt, |88| die kleine Wohnung in Mailand, die er von seinem Großvater geerbt
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