Keine Pizza für Commissario Luciani
hoffte, auf den fahrenden Zug des Revisionismus aufspringen und sich damit in Politikerkreisen einschmeicheln zu können,
aber der Nationalverband der italienischen Widerstandskämpfer ANPI und die jüdischen Organisationen waren sofort auf die Barrikaden
gestiegen und hatten ihn in der Luft zerrissen, die Rechte war auf Abstand gegangen, und selbst der Oberste Richterrat, der
sich immer und überall vor Ermittlungs- und Anklagebehörden stellte, hatte ihn abmahnen müssen.
Die Stimme des Staatsanwalts sprang in die höchsten Register, als sie Marco Luciani empfahl, sämtliche Begleitumstände von
Herrn Rissos Ableben skrupulös zu überprüfen. Der Kommissar hängte befriedigt ein. Mit den beiden Nägeln, die er ihm ins Hirn
getrieben hatte, würde Sasso bestimmt nicht mehr in den Tiefschlaf finden.
Er kam gegen elf auf die Dienststelle. Falls nicht gerade ein Marokkaner zu tief ins Glas geschaut und einen Rivalen auf der
Straße abgestochen hatte, war der erste Januar für die Mordkommission immer ein ausgesprochen geruhsamer Tag. Ihr Stockwerk
lag halbverlassen und still da; Marco Luciani schloss seine Bürotür und warf einen Blick auf den Bericht zum Tod des Fischers.
Es war ein Routinefall, den auch gut ein einfacher Inspektor hätte bearbeiten können, aber aus Neugier – und vielleicht weil
sein Vater Giuseppe Risso gekannt hatte – schaute er sich die Sache etwas näher an. Rissos Zimmergenosse, ein gewisser Gaetano
Perfumo, hatte ausgesagt, Marietto habe in den letzten Tagen aufgeregt und nervös gewirkt. Körperlich dagegen ging es ihm
gut, an Heiligabend hatte er einen Schwächeanfall gehabt, sich aber wieder erholt. Sowohl ihm wie der Direktorin hatte er
wenige Tage später erzählt, er wolle seine Nichte besuchen. Mit einer schnellen Überprüfung am Bahnhof hatte man den Schalterbeamten
ermittelt, der am Morgen |102| des 28. Dienst hatte. Der Mann kannte Risso, er konnte sich erinnern, dass er ihm ein Ticket nach Rom verkauft und Neujahrsglückwünsche
mit ihm gewechselt hatte. Die Nichte, Marina Donati, hatte man dagegen noch nicht aufgespürt. Man hatte ihr eine E-Mail geschickt,
allerdings noch keine Antwort bekommen. Merkwürdig war jedoch, was eine Recherche in der Datenbank der Polizei ergeben hatte:
Giuseppe Risso hatte keine Verwandten ersten Grades mehr. Und eine Marina Donati von etwa dreißig Jahren, mit Wohnsitz in
Rom, gab es auch nicht.
Marco Luciani nahm das Telefonbuch und rief die Leiterin des San-Luigi-Heims an. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln und
Kondolenzbezeigungen kam er sofort zur Sache.
»Entschuldigen Sie, aber die Nichte … Wir können sie nicht erreichen, und es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass sie überhaupt
existiert. Risso war nicht zufällig so ein ›Onkel‹, der, sagen wir …«
»Was meinen Sie, ich verstehe nicht?«
»So einer, der, sagen wir, das Verwandtschaftsverhältnis nur vorgab.«
Schwester Maura schwieg eine Weile, peinlich berührt. »Nein, Commissario. Absolut nicht. Was kommt Ihnen denn in den Sinn?
Glauben Sie, ich könnte hier in meinem Heim … Und dann ausgerechnet Herr Risso. Er war ein absolut integrer Mensch, mal ganz
abgesehen von seinem Alter …«
»Sicher, natürlich. Ich weiß, aber wenn beim Meldeamt keine Daten …«
Die Direktorin seufzte. »Das hat … sehr private Gründe. Ihnen kann ich es natürlich erzählen, aber ich bitte Sie um äußerste
Diskretion. Ich möchte nicht, dass die Presse … Wenn unser Institut in einen Skandal verwickelt würde …«
|103| Marco Luciani setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Der Presse war ein Achtzigjähriger, der ins Wasser gegangen war, so was
von schnurz.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Erzählen Sie mir die Geschichte.«
»Das Mädchen ist die illegitime Tochter von Mariettos Bruder, einem Priester. Sie selbst hat das erst letztes Jahr, beim Tod
ihrer Mutter, erfahren. Der Vater war bereits verstorben. Sowohl der leibliche als auch ihr Ziehvater. So stand sie also plötzlich
mit dieser Wahrheit, die sie entdeckt hatte, allein da. Sie fing an, nach lebenden Verwandten zu suchen. Und ist schließlich
hier bei uns gelandet.«
»Was ist sie für ein Mensch?«
»Marina? Oh, sie ist ein anständiges Mädchen. Sie lebt in Rom, kam ihn aber oft besuchen. Das letzte Mal direkt nach Weihnachten.«
»Sie sagten, Risso sei zu ihr nach Rom gefahren. Tat er das oft?«
»Nein, nie. Aber so wie ich ihn kenne, wollte er sich
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