Keine Pizza für Commissario Luciani
Ihnen einen Aperitif anbieten?«
Er bat ihn an ein schmiedeeisernes Tischchen, in dessen dunkle Tischplatte grüne und weiße Glasstücke eingelassen waren. Dort
standen Flaschen, Gläser, Salzgebäck und Kartoffelchips bereit. Auch die Stühle waren aus Schmiedeeisen und farblich auf den
Tisch abgestimmten, wenn auch um einen Braunton erweiterten Glasstückchen. Marco Luciani beobachtete aufmerksam seinen Gastgeber,
der zwei Gläser Aperol einschenkte: ein kleines Männchen mit weißem Bart und ebenso weißem, schulterlangem und ausgesprochen
gepflegtem Haar. Er trug einen grauen Anzug und an den Füßen ein Paar Ledersandalen, die zwar ausgelatscht waren, aber vermutlich
teurer als alle Schuhe des Kommissars zusammen. Ausgenommen natürlich seine kostbaren Saucony-Laufschuhe.
Ciro Mennella fing an, übers Wetter zu reden, und zwar nicht mit der banalen Oberflächlichkeit, mit der man das Schweigen
überspielt, sondern mit dem Wissen des Möchtegernmeteorologen, einer brandgefährlichen Spezies, die der Kommissar immer gehasst
hatte.
»Wir haben den mildesten Winter der letzten hundert Jahre, wussten Sie das? Der Dezember lag im Schnitt 1,4 Grad über dem
Vorjahreswert, und der war schon rekordverdächtig. Was den Januar angeht, ich glaube, da lehne ich |175| mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, der wird klar über dem 1966er-Wert liegen, wenn nicht sogar über dem berühmten
Jahr 1990. Und das Problem betrifft keinesfalls nur Italien: In Sibirien sollen die Bären schon aus dem Winterschlaf erwacht
sein, wissen Sie, was das heißt?«
Marco Luciani dachte nur: Na und, wen kümmert’s? Sollen sie doch aufwachen. Ihm war es sowieso immer auf den Senkel gegangen,
dass die Bären monatelang schliefen, während er sich den ganzen Winter hindurch abrackerte.
»Ich frage mich oft, was wir unseren Kindern für eine Welt hinterlassen werden, Commissario«, seufzte Mennella, ehe er sich
eine Handvoll Chips in den Mund stopfte.
Ist mir scheißegal, ich habe keine Kinder, dachte Marco Luciani, während er so tat, als nippe er an dem Aperol, den er verabscheute.
Für ihn schmeckte er wie eine Mixtur aus abgelaufener Orangenlimonade, Rhabarbersaft und Industriealkohol. Er zog das Plastiktütchen
aus seiner Jackentasche und drehte es in den Fingern.
»Entschuldigen Sie, wenn ich sofort zum Punkt komme, Herr Mennella. Leider wächst mir im Moment die Arbeit über den Kopf,
ich muss schnellstmöglich zurück nach Genua.«
»Oh, natürlich, Sie haben vollkommen recht. Sie wollten mich schließlich nicht als Hobbymeteorologen konsultieren – auch wenn
ich, offen gestanden, etwas mehr als nur ein Amateur auf dem Gebiet bin, ich nehme an, Sie lesen meine Zeitungsrubrik –, sondern
als Fachmann für Glasfragmente. Und auf dem Gebiet darf ich mich, wenn Sie gestatten, als Profi bezeichnen. Und Künstler.
Oder vielleicht sollte ich zuerst Künstler sagen und dann Profi. Meine Passion entwickelte sich aus der Idee, aus Glasstückchen
Kunst zu schaffen. Aber dann musste, das liegt auf der Hand, der Künstler dem Wissenschaftler weichen, denn Kunst, die diesen
Namen verdient, kann ohne vollkommene Kenntnis |176| und Beherrschung des Materials nicht geschaffen werden. Alle großen Maler der Vergangenheit rührten sich die Farben selber
an, Michelangelo fuhr persönlich nach Carrara, um den Marmorblock für seine Pietà auszusuchen. Der Künstler mag ein Bild im
Kopf haben, sicherlich, aber bis es Form angenommen hat … Um es auf den Punkt zu bringen: Für mich ist der Laie jemand, der
in seinem Kopf ein Bild entwickelt, das, einmal Gestalt geworden, meilenweit entfernt ist von dem, was er ursprünglich entworfen
hatte. Während der Künstler von Format, glauben Sie mir, die zu formende Materie so gut kennt, dass er sie, schon im Augenblick
des Entwurfes, nicht vom Bild des künftigen Werks trennen kann. Deshalb muss ein Künstler heute an sein Werk nicht einmal
mehr Hand anlegen, es reicht, dass er es entwirft, andere können es dann Gestalt werden lassen.« Er lächelte und verschnaufte.
»Aber das gilt nicht für mich, absolut nicht. Ich liebe die Materialien, und ich liebe es, sie zu formen, zu bearbeiten. Kommen
Sie, ich weiß, Sie haben wenig Zeit, aber ich möchte Ihnen gerne meine Arbeiten zeigen. Das Tischchen werden Sie schon bemerkt
haben. Es ist so gestaltet, dass es das Licht der unterschiedlichen Tageszeiten einfängt und die je besondere Aura,
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