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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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hinuntergefahren. Unten hatten wir uns aus Sperrholz und Gasbetonsteinen eine kleine Schanze gebaut.
    Der Wagen der Krankenschwester stand in der Einfahrt. Sie kommt tagsüber. Wir haben keine Vollzeit-Betreuung. Mein Vater ist jetzt seit mehr als zwei Jahrzehnten an den Rollstuhl gefesselt. Er kann nicht sprechen. Sein linker Mundwinkel beschreibt eine hässliche Abwärtskurve. Diese Körperseite ist völlig gelähmt, und die andere ist auch nicht viel besser.
    Als der Fahrer in die Darby Terrace einbog, sah ich, dass mein Haus — unser Haus — genauso aussah wie vor zwei Wochen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Gelbes Absperrband um den Tatort vielleicht. Oder einen großen Blutfleck. Doch es gab keinerlei Hinweis auf das, was vor vierzehn Tagen hier passiert war.
    Als ich das Haus kaufte, hatte es eine Zeit lang leer gestanden. Die Levinskys hatten hier sechsunddreißig Jahre gewohnt, aber niemand hatte sie wirklich gekannt. Mrs Levinsky war anscheinend eine ganz nette Frau gewesen, mit einem nervösen Zucken im Gesicht. Mr Levinsky war ein Ungeheuer gewesen, der sie im
Garten immer angebrüllt hatte. Wir hatten Angst vor ihm gehabt. Einmal sahen wir, wie Mrs Levinsky im Nachthemd aus dem Haus rannte und Mr Levinsky ihr mit einer Schaufel in der Hand folgte. Wir Kinder liefen über alle Grundstücke, außer über das der Levinskys. Als ich gerade mit dem College fertig war, kamen Gerüchte auf, dass Mr Levinsky seine Tochter Dina, ein einsames Kind mit traurigem Blick und strähnigen Haaren, missbraucht hatte. Ich war seit der ersten Klasse mit ihr zur Schule gegangen. Im Rückblick muss ich mehr als zehn Jahre mit Dina Levinsky in derselben Klasse gewesen sein, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie je mehr als nur geflüstert hätte — und auch das nur, wenn sie von wohlmeinenden Lehrern dazu genötigt worden war. Ich habe nie versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ich weiß nicht, wie ich das hätte anstellen sollen, aber ich wünschte, ich hätte es wenigstens probiert.
    Irgendwann in diesem Jahr nach meiner College-Zeit, als die Gerüchte über Dinas Missbrauch sich zu verdichten begannen, waren die Levinskys abgehauen. Niemand wusste wohin. Die Bank hatte ihr Haus übernommen und es vermietet. Ein paar Wochen vor Taras Geburt hatten Monica und ich ein Kaufangebot abgegeben.
    Noch Monate nach unserem Einzug hatte ich nachts wach gelegen und auf — ich weiß nicht — irgendwelche Geräusche gelauscht, auf Hinweise auf das, was in diesem Haus vorgefallen war, auf das ihm innewohnende Leid. Ich hatte versucht, herauszubekommen, in welchem Zimmer Dina geschlafen hatte, und hatte mich bemüht, mir vorzustellen, wie sie das erlebt hatte und wie sie jetzt damit zurechtkam. Aber es gab keine Anzeichen dieser Art. Wie schon gesagt, ein Haus besteht aus Mörtel und Backstein. Mehr nicht.
    Zwei fremde Wagen standen vor meinem Haus. Meine Mutter wartete an der Eingangstür. Als ich ausstieg, kam sie auf mich zugeeilt,
wie man es aus Nachrichtensendungen von heimkehrenden Kriegsgefangenen kennt. Sie umarmte mich ungestüm, und mir stieg eine zu intensive Wolke von ihrem Parfum in die Nase. Ich hatte immer noch die Sporttasche mit dem Geld in der Hand, konnte mich also kaum revanchieren.
    Über die Schulter meiner Mutter sah ich Detective Bob Regan aus meinem Haus kommen. Neben ihm stand ein großer Schwarzer mit kahl rasiertem Kopf und Designer-Sonnenbrille. Meine Mutter flüsterte: »Die warten schon auf dich.«
    Ich nickte und ging zu ihnen. Regan hielt sich zum Schutz vor der Sonne die Hand über die Augen, hatte es aber wohl mehr auf den Effekt abgesehen. So hell war es eigentlich nicht. Der Schwarze stand reglos neben ihm.
    »Wo sind Sie gewesen?«, fragte Regan. Als ich nicht sofort antwortete, ergänzte er: »Sie haben das Krankenhaus vor über einer Stunde verlassen.«
    Ich dachte an das Handy in meiner Tasche. Und an die Tasche voll Geld in meiner Hand. Fürs Erste würde ich mich an Halbwahrheiten halten. »Am Grab meiner Frau«, erwiderte ich.
    »Wir müssen uns unterhalten, Marc.«
    »Kommen Sie rein«, sagte ich.
    Wir gingen ins Haus. Ich blieb im Foyer stehen. Monicas Leiche war keine drei Meter von hier gefunden worden. Noch im Eingang suchten meine Augen die Wände ab, suchten nach verräterischen Spuren des Gewaltausbruchs. Es gab nur eine. Die entdeckte ich ziemlich schnell. Über der Behrens-Lithographie an der Treppe hatte jemand ein Einschussloch zugespachtelt — von der einzigen

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