Keine zweite Chance
eher nicht.
Doch auch diese These sagt nicht allen zu, und daher hängen einige Mitarbeiter der Polizei und des FBI einem dritten, einleuchtenderen Szenario an:
Ich stecke hinter der ganzen Sache.
Ihre Argumentation sieht etwa folgendermaßen aus: Erstens, der Ehepartner ist immer der Hauptverdächtige. Zweitens, meine .38er Smith and Wesson ist nicht wieder aufgetaucht. Sie fragen immer wieder danach. Ich wünschte, ich könnte ihnen eine Antwort geben. Drittens, ich wollte nie ein Kind. Taras Geburt hat mich in eine lieblose Zweckehe gedrängt. Sie meinen, Hinweise zu haben, dass ich über eine Scheidung nachgedacht habe (was tatsächlich gelegentlich vorgekommen ist, ja), und dass alles von
Anfang bis Ende von mir geplant gewesen war. Ich hätte meine Schwester zu uns eingeladen und sie womöglich um Hilfe gebeten, damit man ihr die Schuld geben würde. Ich hätte das Lösegeld irgendwo versteckt. Ich hätte meine eigene Tochter ermordet und verscharrt.
Furchtbar, ja, aber die Wut habe ich hinter mir gelassen. Die Erschöpfung auch. Ich weiß nicht, was mir noch bevorsteht.
Das Hauptproblem an dieser Hypothese ist natürlich, wie ich es hingekriegt habe, als vermeintliche Leiche am Tatort zurückgelassen zu werden. Habe ich Stacy umgebracht? Hat sie auf mich geschossen? Oder — großer Trommelwirbel — gibt es noch eine dritte Möglichkeit, die zwei der vorher genannten unter einen Hut bringt? Ja, manche glauben, ich stecke hinter der Sache, hätte aber noch einen weiteren Komplizen gehabt. Er hat Stacy umgebracht — vielleicht gegen meinen Willen, vielleicht aber auch im Rahmen des großen Masterplans zum Vertuschen meiner Schuld und aus Rache, weil sie auf mich geschossen hatte. Oder irgend so etwas.
Und so drehen wir uns im Kreise.
Wenn man die ganze Sache genauer betrachtet, haben sie — und ich — nichts in der Hand. Kein Lösegeld. Keine Ahnung, wer es gewesen ist. Kein Motiv. Und vor allem keine Babyleiche.
Da stehen wir also heute — anderthalb Jahre nach der Entführung. Offiziell ist der Fall nicht abgeschlossen, aber Regan und Tickner kümmern sich um andere Angelegenheiten. Ich habe seit sechs Monaten nichts mehr von ihnen gehört. Die Medien sind uns ein paar Wochen lang auf die Nerven gefallen, doch als es keine neuen Entwicklungen gab, sind auch sie zu neuen, ergiebigeren Weidegründen weitergezogen.
Die Donuts waren alle. Eltern und Kinder machten sich auf den Weg zu ihren Minivans. Nach dem Spiel laden die Trainer, wie es bei uns Tradition ist, die aufstrebenden Sportler in Schrafft’s Ice
Cream Parlor ein. Alle Trainer in allen Ligen und Altersgruppen folgen diesem Brauch. Das Eiscafé war also rappelvoll. In der kalten Herbstluft gibt’s nichts Besseres als eine Tüte Eis, wenn man so richtig bis auf die Knochen frieren will.
Ich stand mit meiner Kugel Cookies-n-Cream etwas abseits und betrachtete die Gruppe. Kinder und Väter. Das überforderte mich. Ich sah auf die Uhr. Für mich wurde es sowieso langsam Zeit. Ich fing Lennys Blick auf und gab ihm zu verstehen, dass ich mich auf den Weg machen wollte. Er formte mit den Lippen die Worte Dein Testament und schrieb zur Sicherheit noch etwas in die Luft. Mit erhobenem Daumen zeigte ich, dass ich ihn verstanden hatte, ging zum Wagen und stellte das Radio an.
Eine Weile saß ich nur da und sah zu, wie die Familien an mir vorbeiströmten. Ich beobachtete vor allem die Väter, versuchte einzuschätzen, wie es ihnen bei diesen Alltagsaktivitäten erging, und hoffte insgeheim, Ansätze von Zweifel zu erhaschen, etwas in ihren Blicken zu entdecken, das mich tröstete. Doch ich fand nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte. Es waren wohl nicht mehr als zehn Minuten. Im Radio lief eins meiner alten Lieblingsstücke von James Taylor. Es weckte mich aus meiner Trance. Ich lächelte, ließ den Wagen an und fuhr zum Krankenhaus.
Eine Stunde später schrubbte ich mir die Hände, um einen achtjährigen Jungen zu operieren, dem — um mich für Laien und Fachleute gleichermaßen verständlich auszudrücken — das Gesicht zerschmettert worden war. Zia Leroux, meine Kollegin, war dabei.
Ich weiß nicht, wie ich ursprünglich auf den Gedanken gekommen bin, plastische Chirurgie zu machen. Es war weder der Sirenengesang leicht verdienten Geldes noch das ärztliche Ideal, meinen Mitmenschen zu helfen. Chirurg hatte ich von Anfang
an werden wollen, hatte mich aber eher im Bereich Gefäß- oder Herzchirurgie gesehen. Manchmal hält das
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