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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Leben jedoch seltsame Überraschungen parat. In meinem zweiten Assistenzjahr war der für unsere Ausbildung zuständige Herzchirurg ein — wie soll ich sagen? — absoluter Drecksack. Der zuständige Arzt in der plastischen Chirurgie hingegen, Dr. Liam Reese, war unglaublich. Dr. Reese besaß die beneidenswerte Aura eines Menschen, der alles hat, jene Mischung aus gutem Aussehen, ruhiger Selbstsicherheit und warmer Herzlichkeit, die die Menschen für ihn einnahm. Man wollte ihm einfach eine Freude machen. Man wollte so sein wie er.
    Dr. Reese wurde mein Mentor. Er zeigte mir, wie kreativ die rekonstruktive plastische Chirurgie sein konnte, ein gewaltiges Puzzle, das einen zwang, neue Wege zu gehen, um etwas wiederherzustellen, das zerstört worden war. Der Gesichtsschädel ist der komplizierteste Teil des Knochenbaus im menschlichen Körper. Wir, die wir ihn reparieren, sind Künstler. Wir sind Jazzmusiker. Wenn Sie mit orthopädischen Chirurgen oder Thorax-Chirurgen sprechen, können die ihr Vorgehen ziemlich genau beschreiben. Bei unserer Arbeit — der Rekonstruktion — ist kein Fall wie der andere. Wir improvisieren. Das hat Dr. Reese mir beigebracht. Mit seinen Vorträgen über Mikrochirurgie, Knochentransplantationen und künstliche Haut hat er den Technikfreak in mir angesprochen. Ich weiß noch, wie ich ihn in Scarsdale besucht habe. Er hatte eine schöne Frau mit langen Beinen. Seine Tochter hat auf der High School die Rede bei der Abschlussfeier gehalten. Sein Sohn war Kapitän der Basketballmannschaft und der netteste Junge, dem ich je begegnet bin. Dr. Reese kam mit neunundvierzig Jahren auf der Route 684 bei einem Autounfall ums Leben. Manche mögen das bezeichnend finden, ich gehöre allerdings nicht dazu.
    Als ich meine Assistenz beendet hatte, bekam ich ein einjähriges
Weiterbildungsstipendium für Oralchirurgie im Ausland. Ich hatte mich nicht dafür beworben, weil ich ein Weltverbesserer war. Ich hatte mich beworben, weil es sich ziemlich cool anhörte. Ich hoffte, diese Reise würde meine Version einer Rucksacktour durch Europa werden. Daraus wurde nichts. Von Anfang an ging alles gründlich schief. Wir gerieten in einen Bürgerkrieg in Sierra Leone. Ich operierte so furchtbare, so entsetzliche Verletzungen, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie der menschliche Geist die Grausamkeit aufbringen konnte, anderen Menschen so etwas anzutun. Doch selbst inmitten dieser Zerstörung empfand ich ein gewisses Hochgefühl. Ich versuche nicht herauszufinden, woher das kam. Ich habe ja schon gesagt, dass meine Arbeit mich aufputscht. Zum Teil mag es an der Befriedigung gelegen haben, wirklich Bedürftigen helfen zu können. Oder ich wurde in meine Arbeit hineingesogen, wie manche Menschen in Extremsportarten hineingesogen werden; sie brauchen anscheinend das Risiko, die Nähe des Todes, um ganz zu sich zu finden.
    Nach meiner Rückkehr gründeten Zia und ich One World und gingen unseren Weg. Ich liebe meine Arbeit. Vielleicht hat sie etwas von Extremsport, aber sie hat außerdem — entschuldigen Sie das Wortspiel — ein sehr menschliches Antlitz. Das gefällt mir. Ich liebe meine Patienten, aber ich liebe auch die berechnende Distanz und den kühlen Kopf, den ich bei der Arbeit brauche. Ich sorge mich sehr um meine Patienten, aber nach der Operation sind sie verschwunden — große Liebe und flüchtige Bindung in einem.
    Unser heutiger Patient war eine ziemliche Herausforderung. Mein Schutzheiliger — der Schutzheilige vieler plastischer Chirurgen — ist der französische Forscher René Le Fort. Le Fort ließ Leichen vom Dach einer Taverne auf den Kopf fallen, um die entstehenden Frakturlinien im Gesichtsschädel genau zu untersuchen.
Damit hat er bei den Damen bestimmt einen Wahnsinnseindruck gemacht. Heute sind bestimmte Frakturen nach ihm benannt — genauer gesagt: Le Fort I, Le Fort II und Le Fort III. Zia und ich gingen noch einmal die Röntgenbilder durch. In der Aufnahme nach Waters waren die Verletzungen am besten zu sehen, doch die Aufnahme nach Caldwell und die laterale Ansicht bestätigten unsere Erkenntnisse.
    Einfach ausgedrückt handelte es sich bei der Frakturlinie dieses Achtjährigen um eine Le-Fort-III-Fraktur, wodurch der Hirnschädel vollkommen vom Gesichtsschädel getrennt war. Ich hätte das Gesicht des Jungen wie eine Maske abreißen können.
    »Autounfall?«, fragte ich.
    Zia nickte. »Der Vater war betrunken.«
    »Wer hätte das gedacht. Ihm ist nichts passiert,

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