Keine zweite Chance
ich eine Ausstellung in einer Galerie in Midtown in Manhattan — und Cindy kommt zur Eröffnung. Sie umarmt mich und küsst mich auf die Wange. Sie will über die guten alten Zeiten reden, du weißt schon, Weißt du noch, wie der dusslige Mr Lewis …? Sie hat gelächelt und Witze gemacht, und ich schwöre dir, Marc, sie wusste nicht mehr, wie sie damals war. Sie hat mir das nicht vorgespielt. Sie hat einfach total verdrängt, wie sie mich früher behandelt hat. Das ist mir schon öfter aufgefallen.«
»Was ist dir schon öfter aufgefallen?«
Dina führte ihre Tasse mit beiden Händen zum Mund. »Keiner erinnert sich, dass er die anderen tyrannisiert hat.« Sie kauerte sich zusammen, ihr Blick schoss unruhig im Raum hin und her. Ich musste an meine eigenen Erinnerungen denken. Hatte ich wirklich nur daneben gestanden — oder war auch das eine nachträglich geschönte Version der Vergangenheit?
»Das ist völlig grotesk«, sagte Dina.
»Hier im Haus zu sein?«
»Ja.« Sie stellte die Tasse ab. »Wahrscheinlich wartest du auf eine Erklärung.«
Ich schwieg.
Wieder schoss ihr Blick im Zimmer herum. »Willst du mal was völlig Abgefahrenes hören?«
»Klar.«
»Hier hab ich immer gesessen. Als ich klein war. Wir hatten auch so einen rechteckigen Tisch. Ich habe immer auf demselben Platz gesessen. Als ich eben reingekommen bin, na ja, da hat mich dieser Stuhl direkt angezogen. Ich glaube … ich glaube, unter anderem war ich deswegen heute hier.«
»Ich weiß nicht genau, was du meinst.«
»Dieses Haus«, sagte sie. »Es zieht mich immer noch an. Es lässt mich nicht los.« Sie beugte sich vor. Zum ersten Mal sah sie
mir in die Augen. »Du kennst die Gerüchte, oder? Über meinen Vater und was er mit mir gemacht hat.«
»Ja.«
»Es stimmt«, sagte sie.
Ich musste mich zusammenreißen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte an die Hölle, die die Schule für sie gewesen war. Dann versuchte ich, die Hölle hinzuzufügen, die sie in diesem Haus erlebt hatte. Es war unvorstellbar.
»Er ist tot. Mein Vater, meine ich. Er ist vor sechs Jahren gestorben.«
Ich blinzelte und sah zur Seite.
»Mir geht’s gut, Marc. Ehrlich. Ich war in Therapie — na ja, eigentlich bin ich das immer noch. Kennst du Dr. Radio?«
»Nein.«
»Er heißt wirklich so. Stanley Radio. Seine Radio-Therapie ist ziemlich berühmt. Ich gehe seit Jahren zu ihm. Mir geht’s schon viel besser. Der Hang zur Selbstzerstörung ist weg. Ich fühle mich nicht mehr wertlos. Ist aber schon komisch, dass ich darüber weggekommen bin. Das mein ich ernst. Die meisten Missbrauchsopfer sind beziehungsunfähig und haben keinen Spaß am Sex. Das war bei mir nie so. Ich habe kein Problem, jemandem zu vertrauen. Ich bin inzwischen verheiratet. Mein Mann ist ein prima Kerl. Das heißt nicht unbedingt, dass wir bis ans Ende unserer Tage glücklich und zufrieden zusammenleben werden, aber es ist schon verdammt gut.«
»Das freut mich für dich«, beteuerte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.
Sie lächelte wieder. »Bist du abergläubisch, Marc?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Nur damals, als ich das von deiner Frau und deiner Tochter gelesen habe, bin ich ein bisschen unsicher geworden. Was dieses Haus angeht. Dass es ein schlechtes Karma hat und so. Deine Frau war so nett.«
»Du kanntest Monica?«
»Wir sind uns mal begegnet.«
»Wann?«
Dina antwortete nicht sofort. »Sagt dir der Begriff Trigger was?«
Ich hatte eine vage Ahnung aus den Psychologiekursen während meines Studiums.
»Meinst du in der Psychologie?«
»Ja. Weißt du, als ich gelesen habe, was hier vorgefallen ist, war das für mich so ein Trigger. Das ist wie bei Alkoholikern oder Magersüchtigen. Man ist nie ganz geheilt. Irgendwas passiert — der Trigger –, und man fällt wieder in die alten Verhaltensmuster zurück. Ich habe angefangen, Nägel zu kauen. Ich habe mir selbst Schmerzen zugefügt. Es war fast … es war, als müsste ich mich dem Haus stellen. Ich musste der Vergangenheit entgegentreten, um sie zu besiegen.«
»Und das hast du heute Nacht getan?«
»Ja.«
»Und als ich dich vor achtzehn Monaten hier gesehen habe?«
»Da war’s das Gleiche.«
Ich lehnte mich zurück. »Wie oft bist du hier?«
»So alle paar Monate, würde ich sagen. Ich parke auf dem Schulparkplatz und gehe durch den Zucker-Weg. Aber es steckt noch mehr dahinter.«
»Wohinter?«
»Hinter meinen Besuchen. Weißt du, dieses Haus beherbergt meine
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