Keine zweite Chance
nun?
Sie musste ganz in der Nähe sein. Ich überlegte, was ich tun konnte, und dachte dann, ach, zum Teufel damit. Ich sprang an die Stelle, wo ich zuletzt ein Geräusch gehört hatte. Arme und Beine hatte ich weit abgespreizt, um eine möglichst große Fläche abzudecken. Ich landete auf einem Strauch.
Aber mit der linken Hand erwischte ich noch etwas anderes.
Sie versuchte, davonzukriechen, aber meine Finger umklammerten ihren Knöchel. Sie trat mit dem anderen Bein nach mir. Ich hielt sie gepackt wie ein Hund, der sich festgebissen hat.
»Loslassen!«, schrie sie.
Ich erkannte die Stimme nicht. Ich hielt ihren Knöchel weiter fest.
»Verdammt … lassen Sie mich los!«
Nein. Ich bekam etwas Oberwasser und zog sie zu mir heran. Es war noch immer dunkel, aber langsam gewöhnten meine Augen sich daran. Ich zog weiter. Sie drehte sich auf den Rücken. Jetzt waren wir einander nahe genug. Endlich sah ich ihr Gesicht.
Es dauerte eine Weile, bis ich es einordnen konnte. Erstens war es eine alte Erinnerung. Das Gesicht, oder das, was ich davon sehen konnte, hatte sich verändert. Sie sah anders aus. Der entscheidende Punkt, der mir half, sie zu erkennen, war die Art, wie ihre Haare bei unserem Gerangel über ihr Gesicht gefallen waren.
Das kam mir fast bekannter vor als ihre Gesichtszüge — die Schutzlosigkeit dieser Geste, das Vermeiden des Blickkontakts. Und natürlich hatte das Haus, in dem ich wohnte, das Haus, das ich immer mit ihr in Verbindung brachte, dazu beigetragen, dass ihr Bild in meinem Gehirn präsent blieb.
Die Frau schob ihre Haare zur Seite und sah mich an. Ich fühlte mich in die Schulzeit zurückversetzt, in das Backsteingebäude, das keine zweihundert Meter von dort entfernt war, wo wir jetzt lagen. Vielleicht kam jetzt endlich eine gewisse Logik in das Ganze. Die geheimnisvolle Frau hatte vor dem Haus gestanden, in dem sie aufgewachsen war.
Die geheimnisvolle Frau war Dina Levinsky.
11
Wir setzten uns an den Küchentisch. Ich machte Tee, eine chinesische Grünteemischung, die ich bei Starbucks gekauft hatte. Er sollte angeblich beruhigend wirken. Mal sehen. Ich reichte Dina eine Tasse.
»Danke, Marc.«
Ich nickte und setzte mich ihr gegenüber. Ich kannte Dina, seit ich klein war. Ich kannte sie so, wie nur ein Kind ein anderes kennen kann, wie sich nur Klassenkameraden aus der Grundschule kennen, auch wenn — haben Sie Geduld mit mir — ich glaube, dass wir uns nie richtig unterhalten haben.
Wir haben alle eine Dina Levinsky in der Vergangenheit. Sie hatte in unserer Schulklasse die Position des Opfers inne, war eine vollkommene Außenseiterin, die so viel gehänselt und misshandelt wurde, dass man sich fragt, wie sie es geschafft hatte, nicht verrückt zu werden. Ich habe sie nie geärgert, aber ich habe häufig daneben gestanden und anderen dabei zugesehen. Selbst
wenn ich nicht in das Haus gezogen wäre, in dem Dina Levinsky aufgewachsen war, hätte sie in mir weitergelebt. Sie lebt auch in Ihnen. Schnell: Wer war das Kind, dass in Ihrer Grundschulklasse am meisten gehänselt worden ist? Genau. Sehen Sie? Sie erinnern sich. Sie erinnern sich an den Vor- und Nachnamen dieses Kindes, und daran, wie es aussah. Sie erinnern sich daran, wie es ausgesehen hat, wenn es nach der Schule allein nach Hause ging oder in der Pause allein auf dem Schulhof stand. Auf jeden Fall erinnern Sie sich an dieses Kind. Dina Levinsky bleibt einem erhalten.
»Ich habe gehört, du bist Arzt geworden«, sagte Dina.
»Genau. Und du?«
»Grafikdesignerin und Künstlerin. Nächsten Monat habe ich eine Ausstellung in Greenwich Village.«
»Bilder?«
Sie zögerte. »Ja.«
»Du konntest schon immer gut malen«, meinte ich.
Überrascht legte sie den Kopf schief. »Das hast du bemerkt?«
Es entstand eine kurze Pause. Dann hörte ich mich sagen: »Ich hätte etwas tun sollen.«
Dina lächelte. »Nein, ich hätte was tun sollen.«
Sie sah gut aus. Nein, sie war nicht zu einer Schönheit herangewachsen wie die Hässliches-Entlein-Schwäne, die man aus Filmen kennt. Zum einen war Dina nie hässlich gewesen. Sie war schlicht gewesen. Das war sie wohl auch jetzt noch. Ihr Gesicht war noch immer sehr schmal, kam bei der Erwachsenen jedoch besser zur Geltung. Ihr Haar, das früher dünn gewesen war, hatte jetzt Fülle.
»Erinnerst du dich an Cindy McGovern?«, fragte sie.
»Natürlich.«
»Sie hat mich mehr gequält als alle anderen.«
»Ich weiß.«
»Also, es ist komisch. Vor ein paar Jahren hatte
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