Keinen Plan, ein Paar Socken und 1000 km vor sich ...: Der Jakobsweg aus Sicht eines Rheinländers (German Edition)
nachdenklich stimmt. Diesen Anruf in Kombination mit der schimpfenden Frau der Herberge am freien Ohr, wäre ein gutes Trainingsbeispiel für jedes Stressseminar. Ich habe keine Ahnung, warum die Frau uns im wahrsten Sinne des Wortes mit jener Aggressivität behandelt hat. Ob andere Pilger und ihr Benehmen in der Vergangenheit dafür gesorgt haben, oder ob sie einfach einen schlechten Tag hatte. Es hätte sie auf jeden Fall weitaus weniger Kraft gekostet, uns in vernünftigem Ton zu sagen, dass wir doch bitte die Herberge pünktlich verlassen müssen. Etwas an das ich mich hoffentlich erinnere, wenn ich aus welcher Situation auch immer heraus, einmal kurz vor dem Explodieren stehe. Eigentlich ist es vergeudete Kraft.
Nikki ist an diesem Morgen ohne Frühstück los – sie braucht Zeit zum Nachdenken. Wir gehen also mit den Restlichen (Alex, Catia, Annina, Andreas und ich) los und sind um halb zwölf in Melide. Sandy und Jacqueline sitzen vor einer Bar und lassen es sich gut gehen. Wir sammeln sie ein und machen 100 Meter weiter unsere Mittagspause in einem kleinen Restaurant. Es gibt keine Menüs … wir bestellen „a la carte“. Ich entscheide mich für eine Spezialität der Region; eine galegische Gemüsesuppe. Sandy bietet mir auch noch die Hälfte seines Salates an. So gestärkt ziehen wir weiter. Es ist schön, Sandy wieder dabei zu haben … Nikki haben wir bis jetzt nicht gesehen. Immer, wenn es scheint, dass alle zusammen kommen, passiert irgendetwas und einer fehlt doch. Ich merke, wie es mir nach dem Essen zunehmend schlechtergeht.Ich halte das Tempo der anderen heute nicht. Alex und ich fallen zurück. Dieses Mal ist er es, der mich nach vorne treibt. Ich habe nicht ein einziges Mal den Weg in Frage gestellt, oder darüber nachgedacht abzubrechen oder den Bus zu nehmen. Aber heute zweifle ich daran, das Tagesziel zu erreichen. So ist es Alex, der für mich das Tempo macht und an dessen „Geh-Takt“ ich mich richten kann. Die kleine Pause, vor der ich den absoluten Tiefpunkt meiner körperlichen Leistungsfähigkeit des ganzen Weges erlebe, bringt mich nach zwei Cola zumindest wieder soweit in die Spur, dass ich weiter gehen will. Lieber heute schnell zu Ende bringen und hoffen, dass ich morgen wieder der Alte bin. Die anderen treffen Alex und ich an einer Brücke vor einer Herberge. Catia möchte heute hier bleiben und morgen langsam weitergehen, um Bea die Chance zu geben, sie einzuholen. Somit steht eigentlich fest, dass wir getrennt Santiago erreichen werden. Kein schöner Augenblick, aber ich bin heute nicht in der Lage, über irgendwas nachzudenken. Die Pause vor der Herberge geht mir auch zu lange. Ich habe nur das Bedürfnis heiß zu duschen und ins Bett zu gehen. So lassen wir Catia an diesem doch schönen Ort und gehen die letzten Kilometer nach Arzua. Beim „Einmarsch“ in die Stadt treffen wir diverse bekannte Gesichter. Jedes Mal ein kurzer Informationsaustausch und jedes Mal merke ich, dass ich nur genervt und bettreif bin. Ich gehe vor und konzentriere mich auf unser eigentliches Ziel, genügend Betten für sechs Personen finden, bei gleichzeitigem Vorhandensein einer Küche! Die anderen wollen heute Abend kochen. Der dritte Anlauf gelingt. Mit 10 Euro nicht die günstigste Alternative, aber immerhin ist sie da. Die anderen teilen mir mit, dass ich mich gefälligst nur zu duschen und danach bis zum Essen im Bett zu liegen und zu schlafen habe. Ich soll Ihnen meine Wäsche geben und würde zum Essen geweckt werden. „Zu Befehl!“ Ich dusche eine halbe Stunde so heiß ich kann, verabreiche mir 600 mg Ibuprofen, nehme dankend die große Tasse heißen Tee entgegen, den Annina in Zusammenarbeit mit einer fremdem Pilgerin irgendwo hergezauberthat und lege mich schlafen. Aber nicht ohne, dass ich noch in zwei weitere Decken zum Schwitzen eingewickelt werde. Bis zum Abendessen macht mir Jacqueline noch eine Tasse Erkältungstee. Ich muss mich heute um wirklich gar nichts kümmern, stehe nur zum Abendessen auf und genieße das Mahl. Pünktlich zum Essen taucht Nikki auf, die alle Herbergen nach uns abgesucht hat und nun doch fündig geworden ist. Sie setzt sich zu uns und leistet uns Gesellschaft. Schön, sie wiederzusehen. Nur Catia fehlt heute.
Sandy teilt mir kurz vor zu-Bett-gehen mit, dass er morgen direkt durch nach Santiago gehen wird – 41,1 Kilometer. Er schickt sein Gepäck voraus und wird sich morgen als „Turnbeutelpilger“ oder auch „pussypilgrim“ versuchen. Er möchte
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