Keinen Plan, ein Paar Socken und 1000 km vor sich ...: Der Jakobsweg aus Sicht eines Rheinländers (German Edition)
haben sich auch die etwas genierten Leute gewöhnt. Aber hier und nun, kurz vor Santiago, nach knapp 800 Kilometern zeigt man uns, dass Steigerungen immer möglich sind. Die gemischten Duschen haben nicht nur keine abschließbare Türe – nein – sie haben noch nicht einmal einen Vorhang! Alex berichtet dies völlig konsterniert und unterlässt natürlich nicht eine wirklich bildhafte Darstellung seiner hektischen Duschszenerie in der Angst, vom anderen Geschlecht überrascht zu werden. Wir meistern auch diese Situation ohne größere Komplikationen und bleibenden Schäden.
Eigentlich müsste ich früh ins Bett gehen, aber ich habe mir vorgenommen mein Tagebuch lückenlos zu schreiben und muss zwei Etappen infolge nachtragen, um nicht auf die letzten Tage den Schlendrian einreißen zu lassen. So ist es dann doch 23:00 Uhr, als ich ins Bett gehe. Aufstehen ist für 5:00 Uhr geplant, da wiram morgigen Tage die Pilgermesse um 12:00 Uhr in Santiago mitmachen und günstigstenfalls unsere Urkunden vorher abgeholt haben wollen. Dem Ganzen verleiht die Nachricht, dass der große Weihrauchbehälter geschwenkt werden soll, einen besonderen Reiz. Normalerweise wird dieses Monstrum von Behältnis mit einem Durchmesser von einem geschätzten Meter nur sonntags geschwungen. Dabei sind sechs Männer von Nöten, um dem Ding den Schwung zu verleihen und es im wahrsten Sinne des Wortes durch das gesamte Längsschiff der Kathedrale fliegen zu lassen. Angeblich hat ein asiatischer Sender genügend Geld gezahlt, um die Bilder für eine Reportage filmen zu können.
16.06.: Pedrouzo – Santiago de Compostela (21,2km)
Um 5:00 Uhr werde ich durch sanftes Tippen an der Schulter geweckt. Es ist soweit, wir gehören für heute zu den Idioten, die noch vor dem Sonnenaufgang im Dunkeln die Pfeile und Muschelwegweiser suchen werden. Der einzige Trost bleibt die Ausrede, dass wir keine andere Wahl haben, wenn wir denn die Pilgermesse erreichen wollen. Nach Packen und einem kleinen Frühstück geht es los. 6:00 Uhr, die Stirnlampe im Anschlag, begeben wir uns auf unsere vorerst letzte Etappe – ein komisches Gefühl. So ist dieser Morgen auch; komisch. Da sind wir nun kurz vor dem Ziel, dass wir so lange zu erreichen versuchten, lassen jeder für sich den Weg Revue passieren, denken darüber nach, was wohl danach passieren mag. Ich für mich überlege vor allem auch, was mich erwartet, wenn ich nach Hause komme. Ich freue mich auf zu Hause, meine Wohnung, meine Freunde, ja auch auf die Arbeit … aber ich will die Leute hier nicht verlassen. Insbesondere mit dem Wissen, dass diese Gruppe, einmal getrennt, unter regulären Umständen nie wieder in dieser Konstellation zusammenkommenwird. Ich bin weder traurig noch melancholisch … aber es ist ein ganz eigenes Gefühl, zu wissen, dass es dem Ende zugeht. So wandern wir von wenigen Unterhaltungen unterbrochen zwar nebeneinander, aber jeder für sich. Wir haben beschlossen für heute das Trödeln der letzten Tage etwas einzuschränken und auch nur eine kurze Pause zu machen. Sonst wird das nix mit der Messe.
So sind wir dann auch ziemlich zügig unterwegs und haben schon einen Großteil der Strecke geschafft, als wir unser letztes „zweites Frühstück“ einlegen. Nikki wartet mit einer Überraschung und trägt ihr selbst verfasstes Gedicht über den Camino vor. Es handelt, wie soll es anders sein, über die Müdigkeit und das Lächeln am Ende eines Wandertages, die Eindrücke auf dem Weg, natürlich die Schmerzen und Wehwehchen und in letzter Instanz über unsere Familie. Insbesondere über deren enge Bindung, die Traurigkeit und das gleichzeitige Glücksgefühl, was uns auf der letzten Etappe begleitet und den für mich wichtigsten Satz: „So may these small steps lead to bigger things and this camino be only the start“. Gegen 10:00 Uhr erreichen wir den Stadtrand von Santiago. Von hier sind es nur noch wenige Kilometer zur Kathedrale. An der ersten Bäckerei besorge ich uns die standesgemäßen Napolitaner, Alex steuert noch Cola für jeden bei. Als wir die Altstadt erreichen und kurz vor unserem Ziel der Kathedrale sind, tauchen wie aus dem Nichts nacheinander Catia, Simone und Eike und auch Sandy auf. Jacqueline ist dabei, unsere Betten im Hostel zu reservieren und demnach noch unterwegs. Aber die Familie ist somit eigentlich wieder komplett. Wir gehen gemeinsam auf den Platz vor der Kathedrale und dann ist Schluss. Ich stehe da und gucke aller Wahrscheinlichkeit nach wie eine Kuh,
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