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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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schloß leise die Tür hinter sich. Er blieb draußen stehen. Als sie aus dem
     Lift stieg und aus dem Flurfenster schaute, sah sie, daß er noch immer vor der Haustür stand, rauchte und hochblickte.
    Vielleicht liebt er mich ja wirklich? dachte sie. Ich habe doch keine Ahnung, wie das normalerweise vor sich geht.
    »War es interessant?« fragte die Mutter beim Frühstück. »Ich hab mir, ehrlich gesagt, schon Sorgen gemacht. Du warst schließlich
     zum erstenmal über Nacht weg.«
    »Ja, Mama, es war sehr interessant«, antwortete Vera, wandte sich ab und wurde tiefrot.
    »Waren viele Leute da?«
    »Vielleicht zehn.« Vera zuckte die Achseln.
    »Was habt ihr denn die ganze Nacht gemacht? Gedichte rezitiert?«
    »Ja, Gedichte«, echote die Tochter.
    Wahrscheinlich gefällt ihr einer der begabten jungen Männer. Nur gut, daß das Mädchen gleich in kultivierte Kreise geraten
     ist und nicht in eine schreckliche Hofclique, dachte die Mutter und fragte nicht weiter.
    Als Vera am nächsten Tag aus der Schule kam, stand Stas Selinski mit einer großen weißen Nelke in der Hand vor ihrem Haus.
    »Siehst du, ich hatte schon Sehnsucht nach dir«, verkündete er, beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie sanft auf die Wange.
     »Hast du deinen Eltern was erzählt?«
    »Ich habe nur meine Mama, und ich habe ihr nichts erzählt.«
    »Kluges Mädchen.« Er küßte sie noch einmal.
    Diesmal gab sie ihm ihre Telefonnummer.
    Kein Mädchen ihrer Klasse hatte eine Affäre mit einem erwachsenen Dreiundzwanzigjährigen. Vera fand es schön und ein bißchen
     unheimlich, wenn er sie von der Schule abholte.
    »Donnerwetter, Pfannkuchen!« Ihre Klassenkameradinnen schüttelten den Kopf.
    Vera bemerkte selbst nicht, wie sie sich bis über beide Ohren in Stas verliebte. Wenn er ein paar Tage nicht auftauchte, fand
     sie keine Ruhe. Aber er tauchte immer wieder auf und nahm sie mit zu sich nach Hause. Er bewohnte ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung,
     das ihm seine Großmutter vererbt hatte.
    Wenn Vera in die verräucherte, staubige Bude kam, machte sie erst einmal Ordnung, spülte in der Gemeinschaftsküche das Geschirr,
     fegte den Boden und wusch im Gemeinschaftsbad in einer Schüssel die Hemden ihres kostbaren Stas. Dann kochte sie etwas. Nach
     einem stillen gemeinsamen Abendessen zog er sie träge an sich und küßte sie. Ihr wurde jedesmal ganz schwindlig von der Berührung
     seiner großen, warmen Hände und vom Klang seiner Stimme.
    Anschließend brachte er sie nach Hause. Ihre Mutter wollte er nicht kennenlernen, stellte ihr auch seine Eltern nicht vor.
    Nach einem Jahr, nach dem gewohnten Putzen, Abendessen und der üblichen Ration Liebe, zündete er sich eineZigarette an und sagte, den Blick zur Decke gerichtet, mit dümmlichem Spott: »Du kannst mir gratulieren. Ich heirate.«
    »Gratuliere«, erwiderte Vera mechanisch, während sie ihre Strumpfhose anzog.
    Er sah zur Uhr und fuhr fort: »Hör mal, ich bekomme um neun Besuch, und jetzt ist es halb neun …«
    Vera erwiderte darauf nichts, warf sich hastig ihre Sachen über und rannte hinaus. Sie lief durch die abendlichen Straßen,
     und ihr schien, ihr Leben sei zu Ende, sie habe nichts Gutes mehr zu erwarten.
    Übrigens kam ihr Selinskis Heirat ganz passend. Vera ging in die zehnte Klasse und mußte sich auf die Aufnahmeprüfungen an
     der Uni vorbereiten. Nun lenkte sie nichts mehr ab.
    Doch nach einem weiteren Jahr ließ Stas sich scheiden, und das schmutzige Zimmer in der Gemeinschaftswohnung trat wieder in
     Veras Leben. Dann heiratete er erneut, ließ sich noch einmal scheiden, fand Arbeit und verlor sie wieder, wechselte die Geliebten,
     bekam Kinder, zahlte Alimente.
    Immer wenn es ihm schlecht ging oder eine Lücke zwischen Ehefrau und Geliebter entstand, rief er Vera an. Sie kam, spülte
     das Geschirr, wusch seine Wäsche, machte ihm etwas zu essen und ging mit ihm ins Bett. Tauchten in ihrem Leben andere Männer
     auf, war Stas sofort zur Stelle, schlug wie ein Pfau ein prächtiges Rad und sagte ihr zärtliche Worte. Sich selbst verachtend,
     vergaß Vera alles und fuhr zu ihm – Geschirr spülen, Wäsche waschen, kochen und mit ihm ins Bett gehen.
    Ein versierter Psychoanalytiker hätte diese Beziehung als unterschwellig masochistisch gedeutet. Doch Vera ging zu keinem
     Analytiker. Selbst ihrer Mutter erzählte sie kaum etwas. Natürlich hatte Nadeshda Pawlowna im Laufe der Jahre die Ehre gehabt,
     Stas kennenzulernen. Aber sie mochte seinen Namen nicht

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