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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Besitzer der Firma treffen«, flüsterte Sonja eifrig, schaute zur Türund setzte sich wieder mit angezogenen Beinen aufs Küchensofa.
    »Und wenn er ein Bandit ist?« Vera lachte traurig.
    »Aber wir waren uns doch einig: Die Geschichte von der betrogenen, als Sklavin verkauften Schwester ist eine dreiste, geschmacklose
     Lüge. Sogar ich weiß, daß das alles Märchen sind, diese Geschichten von den armen, unglücklichen Mädchen, die mit List und
     Tücke angelockt und zur Prostitution gezwungen werden. Das riecht nach Fernsehserie, das hast du selber gerade gesagt. Ach,
     ach! Ich sterbe, ich bin unschuldig! Böse Männer haben mich ins Unglück gestürzt! Lieber Bruder, rette mich!« Sonja warf die
     Arme hoch und verdrehte die Augen.
    Das tat sie so ausdrucksvoll, daß Vera lachte.
    »Da gibt’s gar nichts zu lachen!« Sonja runzelte die Stirn. »Dein Fjodor ist ein Bandit. Ein Krimineller, verstehst du? Du
     hast mit denen bloß noch nie zu tun gehabt, aber ich beobachte sie jeden Tag.«
    »Sonja, das Leben ist wesentlich komplizierter. Stell dir ein junges Mädchen vor, fast noch ein Kind, das sich verirrt hat,
     sich verlocken läßt von der Aussicht auf schnelles Geld und das schöne Leben im Ausland. Selbst wenn es ihre bewußte Entscheidung
     war, möchte ihr Bruder das nicht wahrhaben. Das kann man doch verstehen. Er sucht Schuldige, um seine Schwester zu rechtfertigen.
     Und Leute, die dieses schmutzige Geschäft betreiben, sind tatsächlich schuld …«
    »Kein normales Mädchen fällt auf so eine Annonce rein: Arbeit im Ausland. Was das heißt, weiß doch jeder. Sogar ich«, sagte
     Sonja mürrisch, ganz wie eine Erwachsene.
    »Na schön«, seufzte Vera, »lassen wir die Schwester beiseite. Aber wenn dieser Wadik sich nun geirrt hat? Ihn mit jemand anderem
     verwechselt? In unserem Hof gibt es noch zwei Irische Setter. Vielleicht hat einer von denen irgendwas Scheußliches im Müll
     aufgelesen. Du weißt doch, das kommt bei Matwej auch manchmal vor. In ihm erwacht derJäger, und er will seine Beute um keinen Preis loslassen, und nach Hause kriegt man ihn auch nicht. Dein Wadik hat vielleicht
     beobachtet, wie jemand seinen starrsinnigen Hund nach Hause gezerrt hat. Genau so einen Hund wie Matwej, und der Besitzer
     sah von weitem aus wie Fjodor.«
    »Und warum hat Matwej dann solche Angst vor ihm? Er zieht den Schwanz ein, zittert. Da paßt einfach zu viel zusammen.« Sonja
     schüttelte den Kopf. »Zu viel.«
    »Aber außer Matwejs eingezogenem Schwanz haben wir bislang nichts Konkretes.« Vera lächelte. »Schließlich bist du nicht sicher,
     daß auf dem Milizfoto wirklich Fjodor war, oder? Du kannst nicht mit Sicherheit sagen: Ja, das ist er.«
    »Nein.« Sonja schlug sich vor Ärger mit der Faust aufs Knie. »Das ist es ja, das kann ich nicht. Er sieht ihm sehr ähnlich.
     Verstehst du, wenn ich nicht vorher erfahren hätte, daß er Matwej entführt hat, dann wäre mir das Foto gar nicht aufgefallen.«
    »Na siehst du, wir beschuldigen jemanden ohne den geringsten Beweis. Außer einem eingezogenen Hundeschwanz und Kriminellenallüren
     haben wir gar nichts. Die komplizierten Gefühle eines Hundes wollen wir nicht erörtern, davon verstehen wir beide nichts.
     Und was die Kriminellenallüren angeht – die haben mitunter auch Leute, die gar nichts mit Kriminellen zu tun haben. Das liegt
     in der Luft, das gilt irgendwie als schick. Zumal er ja auch in Tschetschenien war …«
    »Nein.« Sonja schüttelte den Kopf. »Er spielt nicht den Kriminellen. Im Gegenteil, er versucht das zu verbergen. Aber seine
     Augen … Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll … Weißt du noch, wie wir mal im Zoo waren? Damals haben wir beide bemerkt,
     was für schreckliche leere Augen ein Bär hat, besonders, wenn er dich direkt ansieht. Du hast mir noch erzählt, daß der Bär
     ein ganz hinterhältiges und grausames Tier ist, obwohl er im Märchen immer als einfältig und gutmütig dargestellt wird. Du
     hast gesagt, ein Bärkann sogar jemanden töten, der ihn von klein auf gefüttert hat. Später hat Papa mir erzählt, wie sie auf einer Bohrstation
     mal ein Bärenjunges aufgezogen haben. Der kleine Bär war lieb und komisch, alle mochten ihn. Und als er groß war, hat er zwei
     Geologen zerfleischt, zwei, die ihn mit der Nuckelflasche gefüttert hatten.«
    »Du meinst, Fjodor hat genau so einen schrecklichen Blick wie der Bär im Zoo?« Vera lächelte.
    »Manchmal.«
    »Na schön, Zeit zum Schlafengehen.«

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