Keiner wird weinen
herzlichen, wohlklingenden Stimme. »1973 lernte Sacharow zufällig einen Jungen aus
einem Kinderheim kennen, von da an holte er ihn an Wochenenden, Feiertagen und in den Ferien zu sich nach Hause, nahm ihn
überallhin mit. Adoptierenkonnte er ihn nicht, aus vielerlei Gründen, aber er wurde für den Jungen fast ein Vater, er liebte ihn wie einen eigenen Sohn.«
»Was Sie nicht sagen!« Der Journalist schüttelte den Kopf. »Tatsächlich? Haben Sie den Jungen selbst gesehen?«
»O ja.« Der Sänger lächelte. »Ich erinnere mich, ich habe ihm ein Federmesser geschenkt, das ich aus der Schweiz mitgebracht
hatte. Kolja Koslow hieß er. 1973 war er zehn Jahre alt. Er lebte im Kinderheim, war Vollwaise, seine leibliche Mutter hat
ihn gleich nach der Geburt verlassen. Und Gena hat ihm Wärme gegeben. Er hat ihm nicht nur Spielzeug und Schokolade geschenkt,
er hat sein Herz in ihn investiert.«
»Und was ist später aus Kolja Koslow geworden, wissen Sie das?«
»Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht, aber ich bin sicher, daß mit ihm alles in Ordnung ist. Gennadi hat sich um sein Schicksal
gekümmert, also braucht man sich keine Sorgen zu machen. Aus diesem Jungen ist bestimmt etwas geworden.«
Als sie sich nach dem Interview im Flur verabschiedeten, sagte der Sänger mit gesenkter Stimme: »Weißt du, die Geschichte
mit dem Jungen laß lieber weg. Ich hab da im Eifer des Gefechts seinen Namen genannt. Die Sache ist zwar lange her, aber wer
weiß …«
»Wie du meinst«, sagte der Journalist lächelnd.
Die Passage über den Waisenjungen Kolja Koslow wurde sorgfältig rausgeschnitten. Das wäre ohnehin geschehen, auch wenn der
Sänger nicht ausdrücklich darum gebeten hätte.
Der Kreis wurde allmählich kleiner. Uwarows Mitarbeiter nahmen sich systematisch die Archive von Kinderheimen und Waisenhäusern
vor, redeten mit alten Erziehern und Lehrern. Waisen mit dem Namen Kolja Koslow, geboren1963, gab es über dreihundert. Deren Überprüfung konnte Monate dauern. Also versuchte Uwarow, die Sache von einem anderen
Ende aufzurollen.
Sie wußten, daß Sacharow bis Juli 1973 in einer Gemeinschaftswohnung in Krasnaja Presnja gelebt hatte. Wenn er den Jungen
schon vor seinem Umzug in eine eigene Wohnung mit nach Hause genommen hatte, erinnerten sich die Nachbarn aus der Gemeinschaftswohnung
vielleicht an ihn.
Das Haus war längst abgerissen, doch die Adressen der ehemaligen Nachbarn ließen sich mühelos ermitteln. Dabei fanden sie
heraus, daß in der Gemeinschaftswohnung auch eine Frau Kadotschnikowa gelebt hatte, die zwanzig Jahre in einem Kinderheim
beschäftigt gewesen war, nämlich in einem Sonderheim für Waisen mit der Diagnose »Oligophrenie im Stadium der Debilität«.
Uwarow suchte sie selbst auf.
»Natürlich erinnere ich mich an Kolja Koslow«, sagte sie sofort, »ich war auch dabei, als er Sacharow kennenlernte. Ich hatte
den Jungen fürs Wochenende mit nach Hause genommen. Sacharow und Kolja freundeten sich an, ich freute mich darüber und ließ
Sacharow den Jungen an Wochenenden und in den Ferien zu sich nehmen. Ich kannte Sacharow ganz gut und hielt ihn für jemanden,
dem man unbesorgt ein Kind anvertrauen konnte.«
Sie erzählte nicht, warum sie Kolja Koslow an jenem Wochenende mit nach Hause genommen hatte. Selbst nach zwanzig Jahren erinnerte
sie sich nur ungern an das Kind, das sich vom Dach stürzen wollte, um sich an ihr zu rächen.
Uwarow wollte schon aufgeben. Wieder daneben. Unvorstellbar, daß der nicht zu erwischende Skwosnjak und der geistig zurückgebliebene
Kolja Koslow ein und dieselbe Person sein sollten.
»Sagen Sie, unterschied sich der Junge irgendwie von den anderen?« fragte er ohne die geringste Hoffnung.
»O ja.« Frau Kadotschnikowa nickte. »Er hob sich deutlich von der übrigen Masse ab. Er wurde schnell zum Anführer.«
»Aber er war doch geistig behindert, oder? Ich meine, zu Ihnen kamen doch keine normalen, gesunden Kinder?«
»Kolja Koslow war vollkommen gesund und psychisch normal«, sagte sie nach einer langen Pause leise.
»Und die Diagnose?«
»Sind Sie als Milizmajor wirklich so naiv?« Die Kadotschnikowa seufzte. »Jedes dritte Kind, das von seiner Mutter im Stich
gelassen wird, bekommt nach dem Säuglingsheim diese Diagnose verpaßt. Und jedes zweite davon ist in Wirklichkeit gesund. Mit
den gesunden Kindern hatten wir Erzieher es schwer. Sie waren widerspenstig, verlangten besondere Aufmerksamkeit. Doch für
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