Keiner wird weinen
Schatzmeisters Golowkin gekommen.
Was Sergejew anging, so ließ sich keinerlei mögliche Verbindung zwischen ihm und Skwosnjak oder jemandem aus dessen Bande
herstellen.
»Also, wir nehmen uns Tschuwiljow vor, volles Programm«, sagte Uwarow noch am selben Vormittag bei der täglichen Besprechung
der Einsatzgruppe. »Beschatten, Telefon abhören. Aber schön vorsichtig. Wir dürfen ihn nicht aufschrecken.«
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Vor vierunddreißig Jahren hatte eine zwanzigjährige Packerin aus der Brotfabrik Nr. 5 in der Entbindungsklinik auf ihren Sohn
verzichtet. Sie besaß kein Wohnrecht in Moskau. In der Personalabteilung der Brotfabrik lag eine Heftseite mit einer handschriftlichen
Erklärung: Im Falle der Geburt eines Kindes verpflichtet sich die Packerin, ihren Platz im betriebseigenen Wohnheim zu räumen
und an die Betriebsleitung keinerlei Ansprüche zu stellen.
Das Blatt war kein offizielles Dokument. Die Personalchefin nannte diese Erklärungen geistreich »Verhütungsmittel«. Sie hatten
keinerlei juristischen Wert, übten aber ausreichend Druck aus auf die Psyche der jungen Arbeiterinnen aus der Provinz.
Mit einem Kind durfte man nicht im Wohnheim leben – das war gesetzlich verboten. Eine andere Arbeit bekam man ohne Moskauer
Wohnrecht nicht. Auf Zeit Angeworbene durften ihren Arbeitsplatz nicht wechseln. Wenn ein junges Mädchen aus der Provinz nach
einer zufälligen Liebesbeziehung nicht rechtzeitig abtrieb, blieb ihr nur ein Weg: zurück nach Hause, in die Gegend von Pensa
oder Saratow, Abschied von der Traumstadt Moskau, vor Mama und Papa auf die Knie fallen und sich auf lange Einsamkeit gefaßt
machen, auf das bösartige laute Getuschel des Provinzklatschs. Alleinstehende Mütter mit einem Moskauer Balg wurden in der
Provinz verachtet und nicht geheiratet.
Manch eine brachte den Mut auf und ging mit dem Kind zurück nach Hause. Die Packerin Manja Astachowa nicht. Zu Hause in Adbassar
im Gebiet Zelinograd trank und tobte die Mutter, der Vater war vor langer Zeit verunglückt – er war betrunken am Steuer seines
Lasters eingeschlafen. Mit Lebensmitteln sah es in Adbassar schlecht aus, Butter und Fleisch gab es nur auf Marken. Die gesamte
männliche Bevölkerung trank rund um die Uhr. Manja weinte eine Weile und zog es dann vor, ihren neugeborenen Jungen dem fürsorglichen
sowjetischen Staat zu überlassen. Vielleicht hatte ihr Sohn ja Glück, wurde von anständigen Leuten adoptiert, wurde Moskauer,
würde in einer richtigen Wohnung leben.
Die Ärzte versuchten lange, sie davon abzubringen – der Junge war gesund und kräftig, ein vollkommen normales Baby.
Tolja fühlte sich sehr früh als Waise, früher als viele seiner Altersgenossen. Sein zweites Grundgefühl neben dem Hunger wurde
die Angst, allein zu sein. Wie mit einem Magneten zog es ihn hin zu einer Herde, zu einem Anführer. Auch wenn der Anführer
grausam war und man für seinen Schutz bezahlen mußte. Tolja war zu allem bereit, Hauptsache,er blieb bei der Herde. Sein eigenes Ich hatte für ihn weder Wert noch Sinn. Niemand im ganzen Heim war Kolja Koslow so ergeben
wie Tolja. Er redete ihm nach dem Mund, ahmte ihn in allem nach, sogar in den Gesten. Seinen Vorrat an bedingungsloser kindlicher
Hingabe, mit dem Tolja von Geburt reichlich ausgestattet war und der unter glücklicheren Umständen seiner Mutter hätte zuteil
werden können, verschwendete er nun an Kolja Skwosnjak.
Er dachte oft an seine Mutter, mal haßte er sie, mal versuchte er sie zu rechtfertigen. Als er älter wurde, begann er sie
zu bedauern: Ihr Leben war so bitter verlaufen, daß die Ärmste auf ihr Kind hatte verzichten müssen. Kolja erklärte, das sei
sentimentaler Quatsch, da gebe es nichts zu bedauern, und ging mit ihm eines Nachts ins Archiv und suchte seine Akte heraus.
»Miststücke sind sie, meine wie deine«, sagte er. »Hier, lies.«
Das war in der vierten Klasse. Tolja lernte auswendig, was ihn interessierte: »Astachowa, Maria Fjodorowna, geboren 1943,
Wohnheim der Brotfabrik Nr. 5.«
Als Kolja aus dem Heim geholt wurde, weinte Tolja nächtelang. Er vermißte ihn wie einen leiblichen Bruder. Tolja fühlte sich
schlecht und einsam im Heim, aber er bemerkte erstaunt, daß es ohne Koljas grausame Scherze, ohne seine hinterhältigen Demütigungen
anderer Kinder und der Erzieher irgendwie leichter geworden war. Früher hatte er sich nicht einzugestehen gewagt, daß es ihm
nicht
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