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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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besondere Aufmerksamkeit hatten wir weder die Zeit noch die Kraft. Wenn Kinder rebellierten, mußten wir sie ins Krankenhaus
     schicken. Dort bekamen sie Spritzen, Psychopharmaka. Am Ende waren sie genauso wie alle. Natürlich gab es auch Ausnahmen,
     aber die waren selten. Nur sehr starke Persönlichkeiten konnten sich behaupten, ihren Intellekt bewahren. Das erforderte einen
     enormen Willen und eine gewisse Schläue. Und wo sollte eine Waise die herhaben? Was ich Ihnen jetzt sage, ist vielleicht grausam.
     In meiner langjährigen Praxis habe ich selten, äußerst selten Waisenkinder gesehen, die ich guten Gewissens ohne die geringsten
     Abstriche als vollkommen normal bezeichnen könnte. Kolja Koslow war so eine Ausnahme.«
    »War er auch mal im Krankenhaus?« fragte Uwarow rasch.
    »Ja.« Frau Kadotschnikowa seufzte. »Einmal mußten wir ihn einweisen. Ich weiß nicht mehr, was er angestellt hatte, aber ohne
     Grund haben wir kein Kind dorthin geschickt. Nur im Extremfall, wenn wir allein nicht mit ihm fertig wurden. Bei Kolja kam
     das nur ein einziges Mal vor, danach nie wieder … Sagen Sie, ist er ein Krimineller geworden?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Na ja, Sie suchen doch in der Regel Kriminelle.«
    »Nein.« Uwarow lächelte. »Wir suchen ihn aus einem anderen Grund.«
    »Kolja wurde schon einmal von der Miliz gesucht«, sagte Frau Kadotschnikowa, »vielleicht finden Sie ja in Ihren Archiven noch
     etwas darüber. So um 1985, vielleicht auch eher, genau weiß ich das nicht mehr, wurde eine Vormundschaft für ihn beantragt.
     Er wurde aus dem Heim geholt, und wir haben uns sehr gefreut für den Jungen. Er gehörte wirklich nicht in unser Heim. Doch
     dann lief er weg. Die Vormundschaft war noch nicht einmal erteilt. Natürlich wurde nach dem Jungen gesucht, aber vergeblich.
     Was später aus ihm geworden ist, das weiß ich nicht.«
    »Hatte Kolja Freunde unter seinen Klassenkameraden?«
    »Er war der Anführer und hatte eine gewisse Zahl von Anhängern. Seine Truppe. Eine typische Erscheinung in Kindergruppen.
     Ein paar Jungen folgten ihm auf Schritt und Tritt. Als Freundschaft würde ich das nicht bezeichnen.«
    »Erinnern Sie sich an Namen?«
    »Das ist so lange her. Warten Sie, ich besitze noch ein Klassenfoto. Sie wurden fotografiert, als sie Pioniere wurden.«
    Die Kinder hatten sich auf dem Hof des Heims vor einem Lenindenkmal aufgestellt. Auf einem Plakat an der Fassade des Schulgebäudes
     stand: »WIR SIND LENINS ENKEL!« Ein kleiner eherner Lenin streckte den überproportional langen Arm über die dritte Klasse
     aus.
    Die Kindergesichter auf dem Gruppenfoto waren sehr klein und undeutlich. Wenn man nicht wußte, daß jeder dieser achtundzwanzig
     Jungen und Mädchen eine schreckliche Diagnose in der Akte mit sich herumschleppte, hätte man das nicht vermutet. Sie sahen
     aus wie ganz normale Kinder. Pionieruniform, nagelneue Halstücher. Ganz normale Schulkinder Anfang der siebziger Jahre. Uwarow
     besaß zuHause ein ähnliches Foto, das ihn mit seiner dritten Klasse vor einem Lenindenkmal zeigte, ebenfalls nach der Aufnahme in
     die Pionierorganisation.
    »Das ist er, Kolja Koslow«, sagte die Kadotschnikowa.
    Ein magerer Junge am Rand. Ein runder Kopf mit breiter Stirn, der Blick ein wenig mißtrauisch, ein regelmäßiges Gesicht. Selbstverständlich
     war es unmöglich, dieses Foto mit dem einzigen vorhandenen Foto des erwachsenen Skwosnjak zu vergleichen.
    »Und das ist seine Truppe.« Frau Kadotschnikowa zählte fünf Jungen auf und zeigte auf jeden.
    Sie standen neben ihrem Anführer, bildeten eine Art Ring um ihn. Uwarow schrieb sich die fünf Namen auf.
    »Ich denke, für Sie dürften nur zwei von Interesse sein«, sagte Frau Kadotschnikowa.
    »Warum?«
    »Nun, der hier« – sie zeigte auf einen großen, fülligen Jungen –, »der lebt nicht mehr. Er ist mit achtzehn gestorben, hat
     sich mit Methylalkohol vergiftet. Er hat schon im Internat angefangen zu trinken, in der achten Klasse. Viele unserer Kinder
     sind in dieser Hinsicht erblich vorbelastet. Und diese beiden sind schwerbehindert. Der eine ist in der Psychiatrie Belyje
     Stolby, lebenslänglich, der andere in einer psychoneurologischen Anstalt bei Alexandrow. Ebenfalls lebenslänglich. Wissen
     Sie, als Kolja uns verlassen hatte, waren die fünf Jungen aus seiner Truppe in einer schwierigen Lage. Sie waren an ihre Sonderstellung
     gewöhnt, konnten sie aber nicht behaupten. Keiner der fünf war Kolja ebenbürtig an

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