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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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gefiel, wenn jemand gezwungen wurde, Rotz aufzulecken. Aber niemals hätte er Kolja Skwosnjak verurteilt, nicht einmal
     tief im Innern hätte er je an seinem Anführer gezweifelt.
    Über diese sonderbaren, widersprüchlichen Gefühle konnte er mit niemandem reden. Und allein fand er sich darin nicht zurecht.
     Aber er hatte ohnehin keine Zeit zum Nachdenken. Um allein, ohne Herde, ohne Anführer zu überleben, brauchte er viel Kraft.
    Tolja überlebte, so gut er konnte. Er betrug sich gut, war still und folgsam, lernte fleißig. Wie viele andere seiner Klassenkameraden
     wollte er nach dem Heim nicht in eine Sonderberufsschule, sondern in eine ganz normale, wo normale Jugendliche ausgebildet
     wurden, er wollte einen Beruf lernen, ein Zimmer im Wohnheim und, wenn er Glück hatte – die Revision der Diagnose.
    Nach der achten Klasse wurde er mit einer guten Beurteilung und einem Zeugnis voller Zweien an eine normale Berufsschule geschickt.
     Die Schule befand sich im Bezirk Presnja, und direkt hinterm Zaun lag der runde Ziegelbau der Brotfabrik Nr. 5.
    Gleich am ersten Tag kroch Tolja, der das Ende des Unterrichts kaum abwarten konnte, durch ein Loch im Zaun hinüber auf das
     Gelände der Brotfabrik. Er schlenderte eine Weile zwischen Holzpaletten umher, sog den Duft nach heißem Brot ein und ging
     dann in die Packabteilung, wo Frauen in weißen Hemden und Hosen arbeiteten. Die Brote fielen auf ein Metallkarussell, die
     Frauen nahmen sie herunter und legten sie auf die Holzbretter fahrbarer Transportgestelle.
    Tolja ging zu der Frau, die ihm am sympathischsten erschien, und stellte sich einfach neben sie.
    »Was willst du, mein Junge, Brot?« fragte die Frau, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
    Er war so aufgeregt, daß er nicht einmal ofenfrisches Brot wollte.
    »Arbeiten Sie schon lange hier?« platzte er schließlich heraus. »Ich meine, also … wie viele Jahre?«
    »Lange, mein Junge, sehr lange. Zwanzig Jahre. Die ganze Zeit hier in der Packerei.« Die Frau seufzte.
    Ihre Hände machten automatisch weiter. Tolja bemerkte, daß die grauen Segeltuchhandschuhe lauter Brandlöcher hatten, und dachte:
     Das Brot ist aber heiß.
    »Kennen Sie zufällig …« Bevor er den Namen aussprach, nahm er einen tiefen Zug von der mit heißem Brot geschwängertenLuft. »Haben Sie vielleicht gehört … Hier hat mal eine Maria Astachowa gearbeitet …«
    Die Hände der Frau hielten einen Augenblick inne, sofort türmten sich die heißen Brote auf dem Karussell.
    »Astachowa, Astachowa …« Die Hände in den durchlöcherten Handschuhen verrichteten erneut flink ihre Arbeit.
    »He, Iwanowna«, rief die Frau einer Kollegin zu, einer rotnasigen, mageren Alten, »erinnerst du dich an die Astachowa?«
    »An Manja?« rief die Alte zurück. »Klar erinnere ich mich an Manja Astachowa.«
    Tolja erstarrte. Hielt die Luft an.
    »Wer bist du denn?« Die Alte bewegte emsig die Hände in ebensolchen brandlochgesprenkelten grauen Handschuhen, wie die Kollegin
     sie trug. Sie konnte keinen Augenblick innehalten, die weißen Brotlaibe fielen unablässig auf das Karussell und mußten in
     die Transportgestelle gepackt werden, sonst gab es einen Stau, die Brote wurden eingedrückt, und die Kosten für den Verlust
     wurden den Packerinnen vom Lohn abgezogen.
    Tolja ging um das Karussell herum und stellte sich neben die Alte, um nicht so laut schreien zu müssen.
    »Ich bin … Na ja, eine Art Verwandter.«
    »Manja hatte keine Verwandten. Wie alt bist du denn?«
    »Fünfzehn.«
    »Also dreiundsechzig geboren, ja??«
    Die Alte starrte ihn aus blassen kleinen Augen an, musterte ihn lange, schweigend und sehr aufmerksam. Dann wandte sie sich
     ab.
    Vor Toljas Augen tanzten Brotlaibe und graue Handschuhe. Von den rasend schnellen Bewegungen und von der Hitze wurde ihm ganz
     schwindlig. Die Alte schien ihn vergessen zu haben. Er schaute ihr ins Gesicht. Es war derb, rot, sehr alt und häßlich.
    »Komm her, mein Junge, nimm dir Brot, soviel du willst, und dann geh«, sagte sie schließlich. »Du hast hier nichts zu suchen.«
    »Wo ist sie?« fragte Tolja ganz leise.
    »Wozu willst du das wissen?«
    »Ich will es wissen.«
    Die Alte preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab. Tolja beschloß, nicht lockerzulassen, nicht zu gehen. Er würde so
     lange hier stehenbleiben, bis sie mit der Sprache rausrückte. Sie wußte es doch. Ganz genau wußte sie es! Aber sie wollte
     es ihm nicht sagen.
    »Klawa!« rief die Alte plötzlich, und Tolja zuckte

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