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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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vor Überraschung zusammen. »Was sitzt du da rum? Komm her, lös mich ab,
     ich bin fix und fertig, ich muß eine rauchen.«
    Auf einer Bank am Fenster saßen zwei Frauen, tranken Milch aus der Tüte und aßen dazu frisches Brot, das sie gleich vom Laib
     abbissen. Die eine der beiden stand auf und kam gemächlich zum Karussell.
    Die Iwanowna streifte die grauen Handschuhe ab und lief, ohne sich nach Tolja umzusehen, an den aufgereihten Transportgestellen
     vorbei zum Ausgang. Sie gingen hinaus. Sanft schien die abendliche Septembersonne. Ein Lastauto mit der blauen Aufschrift
     »Mehl« kam auf den Hof gefahren. Ein Verladearbeiter in schmutzigem weißem Kittel lief schwankend und vor sich hin singend
     vorbei, stieß mit der Schulter gegen Tolja, fluchte und verschwand in einer weißen Mehlwolke. Das Mehl wurde durch einen dicken
     Schlauch nach oben gepumpt, ins Mehllager. Der Schlauch schnaufte, als wäre er lebendig.
    »Du siehst Manja ähnlich«, sagte die Iwanowna, holte eine zerdrückte Papirossypackung hervor, nahm eine Papirossa heraus,
     blies durch den Papierfilter und steckte sie an. »Sehr sogar. Wie heißt du denn?«
    »Tolja.«
    »Ein schöner Name. Sie wollte dich eigentlich Georgi nennen, die Manja. Wir waren Zimmernachbarinnen. Als sie aus der Entbindungsklinik
     zurückkam, da hörte die Milch lange nicht auf zu fließen. Sie hat sehr geweint, und dann fing sie an zu trinken. Einmal ist
     sie ins Entbindungsheim gegangen, betrunken, hat dort Krach geschlagen, bis die Miliz sie mitgenommen hat. Danach hat sie
     noch mehr getrunken, schlimmer als ein Kerl, in Schüben … Sie versprechen uns hier eine Wohnung; wenn man sieben Jahre im
     Betrieb gearbeitet hat, soll man angeblich eine kriegen. Kriegt man aber nicht. Jeder weiß das, trotzdem warten alle darauf.
     Auch Manja hat drauf gewartet, sie hat gesagt, wenn ich erst eine eigene Bleibe hab, dann hör ich sofort auf mit dem Trinken,
     dann suche ich meinen Sohn und hole ihn aus dem Heim … Als sie eines Tages von der Spätschicht kam, hat sie eine ganze Flasche
     Wodka getrunken und dann noch Portwein hinterher und ist aus dem Fenster gesprungen, aus dem vierten Stock. Ist ja eigentlich
     nicht sehr hoch, aber unten war Asphalt. Sie war sofort tot.«
    Der dicke, gerippte Schlauch, der aus dem Laster nach oben führte, sah aus wie eine wohlgenährte, lebendige Schlange. Der
     Schlauch fauchte, die Verladearbeiter tauschten träge Flüche, stießen krachend gegen die Palettenwagen. Die Iwanowna trat
     die Papirossa aus, ging wortlos zurück in ihre Halle, zog die löchrigen Handschuhe an, und dann warfen ihre Hände erneut Brotlaibe
     auf die Transportgestelle. Genau wie vor einer Stunde, genau wie vor zwanzig Jahren, als sie noch jung und dumm war und auf
     der Suche nach einem besseren Leben nach Moskau kam. Aber immerhin war sie klüger als Manja Astachowa, sie hatte es geschafft,
     kein Kind zu bekommen und es dann im Kinderheim zu lassen, sie hatte nicht angefangen zu trinken, war nicht aus dem Fenster
     gesprungen, auf den vollgespuckten Asphalt des Wohnheimhofs. Und sie hatte auf ihre alten Tage immerhin ein Zimmer in einer
     Gemeinschaftswohnung erhalten, ihren einsamen Moskauer Winkel.
     
    Seitdem vermied Tolja es, zu dem roten Ziegelbau der Brotfabrik zu schauen, und irgendwie konnte er danach lange kein Weißbrot
     essen. Nur Schwarzbrot – das wurde in dieser Fabrik nicht gebacken.
    Sie hat mich also zweimal verlassen, dachte er, beim zweitenmal endgültig.
    An der Berufsschule war es besser als im Heim. Dort lernte man einen Beruf, dort herrschte nicht die ständige Angst, ins Krankenhaus
     gebracht zu werden. Der Lehrausbilder, ein ehemaliger Partisan, mäßiger Trinker, ein ernster, gründlicher Mann, ging persönlich
     mit Tolja in die psychiatrische Betreuungsstelle, um sich zu erkundigen, wie man die Diagnose revidieren lassen konnte. Tolja
     mußte vor eine Ärztekommission, und die Diagnose wurde revidiert.
    Nach der Lehre bekam Tolja eine Stelle als Klempner bei einer Wohnungsverwaltung, ein eigenes Zimmer und Wohnrecht in Moskau.
     An Manja Astachowa dachte er nie mehr. An Kolja Skwosnjak aber dachte er oft.
    Und eines Tages tauchte Kolja auf.
    An einem frühen Aprilabend saß Tolja rauchend auf einer Bank im Hof vor dem einstöckigen Bürogebäude der Wohnungsverwaltung,
     das Gesicht dem kühlen Frühlingswind ausgesetzt, und wartete, daß Katja aus der Buchhaltung Feierabend hatte. Er war so vertieft
     in seine

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