Keiner wird weinen
müssen uns morgen früh treffen. Wir fahren
zusammen zu einem Bekannten von mir. Er wird uns endgültige Klarheit verschaffen.«
»Fjodor kann morgen früh hier auftauchen, vor Ihnen. Er kann jederzeit kommen«, sagte Vera leise.
»Ich hole Sie morgen früh um acht ab. Früher wird er kaum erscheinen.«
»Ich weiß es nicht. Inzwischen weiß ich überhaupt nichts mehr.«
»Gut. Wenn plötzlich … Machen Sie einfach nicht auf. Klingelt er normalerweise unten an der Wechselsprechanlage?«
»Nein. Er kennt den Türcode.«
»Na wunderbar. Ich klingele erst unten, er dagegen gleich an der Wohnungstür, also können Sie uns nicht verwechseln. Sie machen
ihm einfach nicht auf.«
»Er hat einen Schlüssel. Unser Ersatzschlüssel ist kürzlich verschwunden. Ich dachte, wir hätten ihn irgendwie verlegt, aber
nun ist mir klar, daß er ihn genommen hat. Anton, ich habe große Angst«, setzte sie ganz leise hinzu.
»Vera, noch spielt er nicht mit offenen Karten. Noch ist Zeit. Warten Sie ab, geraten Sie nicht in Panik.«
»Ich geb mir Mühe. Trotzdem – woher wissen Sie, daß er ein Bandit ist?«
»Morgen früh werden wir alles genau erfahren, soweit das möglich ist. Jetzt müßte ich zu weit ausholen. Man kann nicht gut
erklären, was man selber noch nicht ganz begriffen hat. Haben Sie keine Angst, schlafen Sie gut, Vera.«
Anton legte auf und schaute sich das kleine Polaroidfoto noch einmal an. Der Mann auf dem Foto war Fjodor. In Wirklichkeit
hieß er natürlich anders. Und er arbeitete nicht beim Wachschutz. Er war der »süße russische Bär«, von dem die Schwedin Karolina,
die Drogenhändlerin, so geschwärmt hatte. Ihm hatte Denis damals auf dem Flugplatz das Päckchen übergeben sollen, und er hatte
vermutlich den Auftrag, Denis anschließend aus dem Weg zu räumen.
Anton wollte bislang noch keine logische Kette konstruieren. Er mußte abwarten bis morgen. Morgen um neun erwartete ihn der
fünfundsiebzigjährige Anwalt Semjon Katz, ein alter Freund seines Vaters.
Bevor Anton aus dem Haus ging, duschte er rasch heiß, zog einen leichten dunklen Anzug und ein frisches Hemd an und nahm fünf
Hundertdollarscheine aus dem Schreibtisch – die letzten, wie er feststellte. Bei einem Blick in den Flurspiegel entdeckte
er, daß sein Gesicht eingefallen war und er Ringe unter den Augen hatte.
Auch er hatte Angst. Nicht nur um sich.
Neunundzwanzigstes Kapitel
»Wir sitzen fest wie im Panzer«, sagte Malzew seufzend. »Der einzige Trost: Wir haben eine schöne Frau aus der U-Haft rausgeholt.
Wie wär’s mit einem kleinen Wodka?«
Sie saßen spät in der Nacht bei Uwarow in der Küche und unterhielten sich fast flüsternd. Hinter der dünnen Wand schliefen
Uwarows Frau Aljona und die zwei Monate alte Dascha, ihre Jüngste. Der vierzehnjährige Sohn Gleb war in ein Trainingslager
bei Dubna gefahren.
»Hätten wir eine Häßliche aus der U-Haft geholt, wäre das für dich weniger tröstlich?«
Uwarow nahm eine mit einer dünnen Eisschicht überzogene halbleere Wodkaflasche aus dem Eisfach, stellte zwei Gläser auf den
Tisch und schnitt Schwarzbrot und Schinken auf.
»Eine Schöne tut einem irgendwie doppelt leid«, bekannte Malzew und steckte sich eine Zigarette an.
»Eine Häßliche tut einem noch mehr leid.« Uwarow schenkte Wodka ein. »Besonders, wenn sie unschuldig ist. Na dann – auf unsere
Gesundheit.«
Sie stießen lautlos an.
»Vera Saltykowa, geboren 1967 in Moskau, Studium an der Fakultät für Romanistik und Germanistik. Übersetzerin für Englisch
und Französisch. Nicht fest angestellt, nur gelegentliche Aufträge. Nicht verheiratet, keine Kinder, lebt mit ihrer Mutter
zusammen. Die Mutter ist Kinderärztin«, berichtete Malzew mit dumpfer Stimme. »Kannte den ermordeten Selinski seit fünfzehn
Jahren. Eine langjährige Affäre mit kurzen aktiven Perioden. Hör mal, Juri, was soll das mit Skwosnjak zu tun haben? Wir beide
haben uns irgendwie an diesem fernöstlichen Kampfsport festgebissen. Schließlich gibt’s doch in Moskau jede Menge Leute, die
Karate, Judo und so weiter beherrschen, oder?«
»Stimmt.« Uwarow nickte. »Hast du diese Übersetzerin angerufen?«
»Noch nicht. Wozu? Daß Selinski an dem Abend bei ihr war, weiß ich ohnehin. Wir verrennen uns bloß in eine Dreiecksgeschichte,
den Mörder finden wir so bestimmt nicht, wir verlieren nur wertvolle Zeit. Ich kann diesen Untersuchungsführer Gusko übrigens
gut verstehen. Er ist
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