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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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hagerer Greis mit üppigem schneeweißem Haar umarmte Anton und küßte Vera galant die Hand.
    Der in ganz Moskau berühmte Anwalt lebte sehr bescheiden. Die Zweizimmerwohnung in einem Nachkriegsbau am Prospekt Mira prunkte
     nicht mit Luxus. Solide, schlichte Möbel, Spezialanfertigung; nichts Antikes, keine Bilder an den Wänden, lediglich gerahmte
     Familienfotos. Den größten Teil seiner Ersparnisse hatte Katz nach Parisgeschickt, wo seine einzige, zärtlich geliebte Tochter mit ihrem französischen Mann und den beiden Söhnen lebte. Auch Katz
     wollte dorthin übersiedeln, schob es aber immer wieder auf. Er mochte Paris nicht, er fand es kalt und hochmütig. In Moskau
     hatte er Sehnsucht nach seiner Tochter und den Enkeln, in Paris fehlte ihm Moskau.
    »Meine ganze enorme Lebenserfahrung kann mir nicht helfen, eine banale Lebensfrage zu lösen«, sagte der Greis. »Ich will in
     meiner Heimat sterben, aber nicht allein, sondern umgeben von meinen Enkeln. Doch das ist unmöglich. Also sterbe ich nicht
     und pendle zwischen Moskau und Paris hin und her.«
    Viele glaubten, der Greis habe sich gänzlich aus dem Geschäft zurückgezogen. Er übernahm schon lange keine Verteidigung mehr,
     auch Rechtsauskünfte erteilte er nur noch selten. Kaum jemand wußte, daß der alte Anwalt dennoch auf dem laufenden war über
     viele kriminelle Aktivitäten – und zwar nicht nur in Rußland, sondern auch im Ausland, im nahen wie im entfernteren. Woher
     er diese Informationen bekam und vor allem, wo er sie aufbewahrte, wußte niemand.
    Mit Antons Vater, dem KGB-Oberst Wladimir Kurbatow, hatte den alten Anwalt eine langjährige Freundschaft verbunden. Sie hatten
     sich dreißig Jahre gekannt und einander viele große und kleine Dienste erwiesen. Katz hatte fast umgehend von Denis’ Tod erfahren,
     und zwar nicht von Anton und nicht von Xenija, sondern aus seinen eigenen Quellen. Sein Mitgefühl war aufrichtig, er hatte
     angerufen und gefragt, ob er helfen könne. Anton hatte sich bedankt und abgelehnt.
    Das war noch nicht lange her. Gestern abend nun hatte Anton den Anwalt gefragt, ob er zu ihm kommen dürfe. Katz hatte erwidert,
     daß er sich immer freue, ihn zu sehen. Anton bat, ihn zu Hause besuchen zu dürfen, woraufhin der Alte nur spöttisch sagte:
     »Das ist mir um so angenehmer.«
    Er führte sie ins Zimmer, ließ sie in Sesseln vor einem Couchtisch Platz nehmen und setzte sich ihnen gegenüber.
    »Nun, Anton, ich vermute, du kommst wegen eines Falls. Heutzutage kommt niemand einfach so zu Besuch. Schon gar nicht zu einem
     alten Mann, noch dazu am frühen Morgen.«
    »Ja«, gestand Anton, »ich komme wegen eines Falls.«
    »Aber gedulde dich noch einen Moment, in Ordnung? Ich bin noch nicht ganz wach. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so früh am
     Morgen schon zu arbeiten, weißt du. Sag, wie geht es Mama? Hat sie sich ein bißchen gefangen? Das arme Mädchen hat so viel
     durchgemacht – erst Wolodjas plötzlicher Tod und nun Denis … Ich darf gar nicht daran denken. Für mich ist deine Mama noch
     immer das Mädchen Xjuscha mit den musikalischen kleinen Händen …«
    »Es ist schwer mit Mama«, bekannte Anton, »ich fürchte, ich muß sie einem Psychiater vorstellen.«
    »Schieb das nicht zu lange auf. Ich kenne einen guten Spezialisten. Ist denn der Mörder inzwischen gefaßt? Gibt es irgendwas
     Neues aus Prag?«
    »Nein. Darüber wollte ich eigentlich mit Ihnen reden …«
    »Anton« – der Alte schüttelte den Kopf –, »darüber werden wir nicht reden. Du weißt, ich habe mich aus dem Geschäft zurückgezogen.
     Denis machst du nicht wieder lebendig, also spiel nicht den Detektiv.«
    »Ich habe nicht vor, den Mörder zu suchen«, sagte Anton leise.
    »Dann ist es ja gut.« Der Alte lächelte. »Trinken wir einen Tee zusammen, ihr beiden. Oder einen Kaffee. Habt ihr schon gefrühstückt?
     Ich nämlich noch nicht. Ich würde mich freuen, wenn ihr mir beim Frühstück Gesellschaft leistet. Anton, wir beide gehen in
     die Küche und kümmern uns um das Essen, wie richtige Männer, und Sie, Vera, ruhen sich solange aus.«
    »Danke.« Vera lächelte. »Aber vielleicht helfe ich Ihnen lieber Frühstück machen?«
    »Auf keinen Fall! Frauen darf man nicht an den Herd lassen. Ich habe eine Haushaltshilfe, eine liebe Dame, aber der Toast
     brennt bei ihr immer an, Fleisch wird hart, Fisch zerfällt und verliert den Saft, und der Kaffee kocht ständig über.«
    Allein in dem behaglichen fremden Zimmer, schloß

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