Keiner wird weinen
Plastikwand, oben ein schmiedeeisernes Gitter.
Golowkin schob den kostbaren Koffer vorsichtig auf den Nachbarbalkon und lehnte ihn gegen die Trennwand. Das Hotel hatte nur
wenige Gäste, und er war sicher, daß im Nebenzimmer niemand wohnte. Außerdem hatte er ohnehin keine Zeit zum Überlegen.
Golowkin staunte noch immer, wie er das alles in einer halben Minute geschafft hatte. Er war sogar noch zurück unter seine
Decke geschlüpft, kurz bevor die Zimmertür aufging.
Zwei schwarz maskierte junge Männer kamen herein. Einer stürzte zu Golowkin, hielt ihm eine Pistole an die Schläfe und sagte
auf russisch: »Keine Bewegung. Wo ist das Geld?«
Golowkin begriff sofort, daß es dumm und gefährlich gewesen wäre, sich naiv zu stellen, und fragte nicht: »Welches Geld?«
»Das habe ich per Kurier nach Moskau geschickt«, antwortete er, so ruhig er konnte.
Der zweite junge Mann schaute sich unterdessen auf dem kleinen Balkon um, dann schloß er die Balkontür, zog dieVorhänge zu, machte Licht und durchsuchte gründlich das Zimmer.
Dem erfahrenen Golowkin war klar, daß die nächtlichen Besucher keine ernsthafte Gefahr darstellten. Sie sorgten dafür, daß
er ihre Gesichter nicht sah, also würden sie ihn am Leben lassen, egal, wie die Sache ausging. Und der Ausgang war auch klar:
Sie würden nichts finden.
Offenbar hatten sie zufällig von der Million erfahren. Seriöse Männer hätten sich auf ein derartiges Abenteuer niemals eingelassen.
Seriöse Männer hätten zunächst einmal herausgefunden, wem das Geld gehörte, und es sich dreimal überlegt, ob sie in das Zimmer
von Skwosnjaks Schatzmeister einbrachen.
Zum Schluß bekam Golowkin noch einen Schlag in die Magengrube, dann verließen die beiden unverrichteterdinge das Zimmer, in
dem Golowkins armselige Habe auf dem Boden verstreut lag.
Golowkin wartete zur Sicherheit noch zehn Minuten, dann schlich er hinaus auf den Balkon, langte durch die Gitterstäbe und
suchte tastend nach dem Koffer. Zuerst glaubte er, er sei auf den Boden gefallen. Er ging in die Hocke und steckte seine Hand
durch den schmalen Spalt unter der Trennwand. Sein Herz stockte. Bemüht, das plötzliche Zittern zu unterdrücken, ging er zurück
ins Zimmer und holte die Tischlampe. Das Kabel war lang genug. Er stellte einen Stuhl auf den Balkon, darauf die Lampe, kletterte
auf den Stuhl, nahm die Lampe in die Hand und leuchtete auf den Nachbarbalkon. Der Koffer war weg.
Während Golowkin jetzt in allen Einzelheiten von jener schrecklichen Nacht erzählte, bemüht, seinem Gegenüber nicht in die
Augen zu sehen, dachte er, daß er im Grunde keinen Fehler gemacht und vernünftig gehandelt habe.
Etwas Ähnliches war ihm schon einmal passiert.
Vor ein paar Jahren hatte Skwosnjak ihm ein kleines Chagall-Original zur Aufbewahrung gegeben, ein Stück Leinwand,nicht größer als zwei aufgeschlagene Schulhefte, von unschätzbarem Wert. Es war ein heißer Sommer. Golowkins Frau war zu einer
Freundin auf die Datscha gefahren.
In einer schwülen Nacht erwachte Golowkin; im Zimmer stand nur das obere Lüftungsfenster offen. Er blickte in den stillen
Hof hinaus und sah einen Jeep vor der Tür halten. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, daß die fünf Männer, die aus dem Auto
stiegen, zu ihm wollten. Irgend jemand hatte Wind bekommen von dem Bild.
Ohne lange zu überlegen, zog Golowkin die Leinwand unter der Matratze hervor und wickelte sie in Zeitungspapier. Die Nachbarn
gegenüber waren gerade beim Renovieren. Das Treppenhaus stand voller Kisten und Kartons mit Müll. Während die Chagall-Liebhaber
das Haus betraten und mit dem Lift hochfuhren, stopfte Golowkin das kostbare Bild in einen Karton mit schmutzigem Zeitungspapier.
Die Besucher fesselten den Hausherrn, durchsuchten gründlich die Wohnung und zogen erfolglos ab. Das kostbare Kunstwerk war
gerettet. Skwosnjak schenkte es großzügig seinem findigen Schatzmeister. Für Golowkin war dieses Stück Leinwand seitdem eine
Art Talisman. Das Bild gefiel ihm: Ein verliebtes Pärchen schwebt in den Wolken, auf einem Fensterbrett steht ein Gummibaum,
daneben eine Katze mit menschlichem Gesicht.
Später zeigte Golowkin das Bild einem Sachverständigen, nur für alle Fälle. Vielleicht war es ja eine Fälschung? Das war natürlich
riskant, aber es lohnte sich: Das Bild war tatsächlich echt.
Mit der Million Dollar hatte Golowkin fast genauso gehandelt wie damals bei der Sache mit dem Chagall. Doch
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