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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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schlüpfte unter die Decke und preßte seine
     Stirn an Olgas warme Schulter. Sie murmelte im Schlaf etwas, drehte sich um und umschlang seinen Hals.
    Vielleicht sollte ich sie wirklich heiraten, dachte er plötzlich. Sie wäre eine prima Ehefrau. Er verscheuchte diesen albernen
     Gedanken sofort wieder und wunderte sich, wie stark der seltsame, scheußliche Traum ihn beeindruckt hatte. Er war doch nie
     abergläubisch gewesen, hatte stets auf Vorzeichen und Ahnungen gepfiffen. Denis dagegen glaubte an Intuition, an Träume und
     anderen mystischen Quatsch.
    Anton schlief unversehens wieder ein. Diesmal hatte er keinen Alptraum. Er erwachte vom Telefonklingeln. Das Telefon stand
     neben der Liege auf dem Teppich. Olga tastete mit geschlossenen Augen nach dem Hörer.
    »Ja, guten Tag, Xenia Anatoljewna.« Sie sah Anton fragend an.
    Er nickte wortlos und nahm den Hörer.
    »Mama? Guten Morgen.«
    Noch ehe er sich wundern konnte, wie seine Mutter ihn hier ausfindig gemacht und Olgas Nummer rausgekriegt hatte, erbleichte
     er, und ihm wurde schwindlig.
    »Ja, Mama. Ich komme sofort«, sagte er mit kalkweißen Lippen, legte auf, sprang aus dem Bett und rannte durchs Zimmer, um
     seine auf dem Teppich verstreuten Kleider aufzusammeln.
    »Was ist passiert?« fragte Olga leise.
    »Das ist Blödsinn!« schrie er sie an. »Das kann nicht sein! Hörst du? Das kann nicht sein!«
    »Anton, was ist los?«
    »Irgendwelche Idioten haben angerufen und gesagt, Denis … Er sei angeblich …«
    »Was?« Olga verstand nicht. »Drück dich doch deutlich aus …«
    Aber er war bereits hinausgestürmt, ohne seine Turnschuhe zuzuschnüren.
     
    Die nicht sehr große, aufrechte Gestalt war so überraschend vor Golowkin aufgetaucht, daß er nicht einmal erschrecken konnte.
    In der Gasse befanden sich nur wenige Passanten. Eine krummbeinige Alte mit Einkaufstasche trippelte vorbei, zwei Jugendliche
     in überweiten Raverhosen schossen auf Inlineskatern die Straße entlang, eine junge Mutter schob gemächlich einen Kinderwagen.
     Aber Golowkin wußte: Im Fall des Falles würde er ohnehin nicht mehr dazu kommen, zu schreien, um Hilfe zu rufen.
    Der Mann, der dicht vor ihm stand, tötete rasch, mit einem einzigen Hieb. Ohne jede Waffe. Er beherrschte tödliche fernöstliche
     Kampftechniken.
    Den Spitznamen Skwosnjak, Zugwind, hatte er schon als Kind bekommen. Er schien durch Wände gehen zu können, aus dem Nichts
     aufzutauchen und im Nichts zu verschwinden.
    Golowkin war zufällig einmal Zeuge eines Femegerichts geworden. Ein junger Bandit wurde verdächtigt, die eigenen Leute bestohlen
     zu haben. Irgend jemand hatte Skwosnjak gesteckt, der Junge habe sich heimlich einen Smaragdring genommen, der zur Beute aus
     einem Wohnungseinbruch gehörte. Skwosnjak, die Hände auf dem Rücken, sah zu, wie zwei andere Banditen den Beschuldigten durchsuchten.
     Sie fanden den Ring im Schuh des Jungen. Skwosnjak versetzteihm einen leichten Handkantenschlag in den Bauch. Niemand bekam richtig mit, was geschehen war. Golowkin, der ganz in der
     Nähe stand, hatte das Gefühl, als sei ein rascher kalter Wind durchs Zimmer geweht.
    Der Junge krümmte sich, sein Gesicht nahm eine bläuliche Färbung an. Er starb nicht sofort, sondern erst zehn Tage später
     im Krankenhaus. Seine Leber war abgetrennt, und die Ärzte konnten ihn nicht retten.
    Der Ring erwies sich übrigens als Tand – billiges gelbes Blech und grünes Glas.
    »Gehen wir lieber woandershin«, flüsterte Golowkin, »vielleicht in das Café da drüben.«
    »Meinetwegen.« Skwosnjak nickte gelassen. »Gehen wir ins Café.«
    Das Café war leer. Sie setzten sich an einen Fenstertisch. Eine junge Serviererin mit meterdicken Schuhsohlen lächelte sie
     freundlich an.
    »Guten Abend. Was möchten Sie essen?«
    Golowkin dachte, er würde jetzt ohnehin nichts essen können. Aber etwas trinken würde nicht schaden. Wodka.
    »Bringen Sie uns bitte Wodka«, sagte Skwosnjak.
    Golowkin zuckte zusammen – dieser Mann schien seine Gedanken lesen zu können. Skwosnjak selbst trank nämlich keinen Wodka.
     Überhaupt keinen Alkohol.
    »Und zu essen?« fragte die Serviererin.
    »Salat, Fisch.« Skwosnjak zuckte die Achseln. »Irgendwas Leichtes, wir verlassen uns ganz auf Ihren Geschmack.«
    »Auch ein Hauptgericht?« Das Mädchen lenkte den abwartenden Blick von dem sympathischen jungen Gast zu dem rundlichen kleinen
     Alten, der irgendwie nervös wirkte.
    »Ja, ja!« Golowkin schreckte auf. »Für mich bitte

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