Keiner wird weinen
diesmal war es
schiefgegangen.
Skwosnjaks Gesicht war wie aus Stein. Vergebens suchte Golowkin darin nach einer winzigen Regung der Lippen, Augen oder Wangen.
Woran sein Gegenüber dachte, was in seiner finsteren Seele vorging, blieb ein Geheimnis.
Golowkin erzählte, wie er auf den Nachbarbalkon geklettert war; die Tür zum Zimmer war von innen verschlossen. Drinnen war
es dunkel und grabesstill. Da er nicht hineinkam, ging er wieder zurück und hinaus auf den Flur. Die Zimmertür war natürlich
ebenfalls verschlossen. Mehr konnte er nicht tun. Den Rest der Nacht lag er wach. Am frühen Morgen begab er sich hinunter
zur Rezeption. Dort saß eine blutjunge Blondine.
In der Tschechoslowakei war Russisch Pflichtfach gewesen, die heute Zwanzigjährigen hatten es also alle noch in der Schule
gelernt. Doch viele junge Leute weigerten sich, Russisch zu sprechen – so auch das junge Mädchen an der Rezeption. Für sie
war Russisch die Sprache der Okkupanten, die man ihnen gewaltsam aufgezwungen hatte. Der ältere Herr war zwar Hotelgast, und
mit ihm zu reden gehörte zu ihren Pflichten, dennoch erklärte sie Golowkin kühl, sie verstehe kein Russisch. Wenn der Herr
wünsche, könne sie mit ihm Englisch oder Deutsch sprechen.
Zum Glück haben Russisch und Tschechisch viele gemeinsame Wurzeln. In der Schule hatte Golowkin Deutsch gelernt, aber das
war furchtbar lange her, sein Wortschatz beschränkte sich auf ein Dutzend Vokabeln. Ein weiteres Dutzend konnte er auf tschechisch.
Radebrechend, deutsche, russische und tschechische Wendungen vermengend, erklärte er der hochmütigen Blondine, er müsse unbedingt
wissen, wer im Zimmer neben ihm wohne. Das sei für ihn äußerst wichtig. Seine Schwester und ihr Mann seien vor vielen Jahren
bei einem Autounfall umgekommen.
»Und all die Jahre suche ich schon nach ihrem einzigen Sohn, meinem Neffen. Er wurde adoptiert und trägt einen anderen Namen,
und laut Gesetz gibt es ein Adoptionsgeheimnis. Vor kurzem habe ich nun erfahren, daß der Junge, inzwischen ein erwachsener
Mann, zur Zeit in Prag ist, auf einer längeren Dienstreise. Ich bin hergekommen, um nach ihm zu suchen. Ich bin sehr krank,
ich habe Krebs,ich werde nicht mehr lange leben, und vor meinem Tod möchte ich unbedingt meinen einzigen Neffen noch einmal sehen. Hier im
Hotel ist mir nun kürzlich ein junger Mann aufgefallen, der meiner verstorbenen Schwester sehr ähnlich sieht. Vielleicht kam
es mir ja auch nur so vor … Aber wer weiß? Vielleicht wohnt er direkt neben mir? Vielleicht ist das ein Geschenk des Schicksals,
als Belohnung für die langen Jahre der Suche?«
Er staunte selbst über seine Redegewandtheit und seine blühende Phantasie. Er redete wie ein Buch, erfand einen ganzen Roman
und sprach schon seit einer Weile nur noch Russisch. In seinen Augen standen Tränen.
Das Mädchen an der Rezeption hörte ihm gebannt zu, ihr Gesicht spiegelte aufrichtiges Mitgefühl. Sie hatte sogar vergessen,
daß sie kein Russisch verstand.
»Aber mein Herr«, sagte sie verwirrt auf russisch, als er fertig war, »im Zimmer neben Ihnen wohnt niemand.«
»Und ein Zimmer weiter?« hauchte er entmutigt.
»Einen Augenblick.« Das Mädchen blätterte im Gästebuch. »Ja, ein Zimmer weiter wohnt ein junger Mann aus Rußland. Hier, Denis
Kurbatow.«
»Ich danke Ihnen, junge Frau. Sie wissen gar nicht, wieviel Sie für mich getan haben …«
»Nicht doch, mein Herr, das ist doch so wenig … Möchten Sie hinaufgehen zu Herrn Kurbatow?«
Golowkin stockte. Nein, hinaufgehen durfte er nicht. Wenn dieser Kurbatow ihm tatsächlich den Koffer gestohlen hatte, würde
er sofort Bescheid wissen. Außerdem war er bestimmt längst nicht mehr im Hotel, vielleicht nicht einmal mehr in Prag.
Ja, das Verschwinden des jungen Mannes wäre vermutlich das erste Indiz dafür, daß er den Koffer hatte. Zuerst mußte er herausfinden,
ob er noch einmal im Hotel auftauchte, und dann soviel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen.
»Wissen Sie, das wäre eine zu große Erschütterung für ihn und auch für mich. Wenn ich mich nun irre? Das Geburtsjahr stimmt,
aber ich weiß ja weder seinen Vor- noch seinen Familiennamen. Ich muß erst einmal einen Blick auf ihn werfen. Dann wird mein
Herz es mir sagen.«
Die Serviererin hatte längst die Vorspeisen aufgetragen, doch sie standen noch unberührt da. Golowkin hatte noch nicht einmal
seinen Wodka getrunken. Er unterbrach seinen
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