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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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plötzlich das Gefühl, als werde er durch das
     Bürofenster ständig beobachtet. Die Panik, die all die Tage in ihm gesteckt hatte, brach in einer neuen, übelkeitserregenden
     Welle hervor. Golowkin hielt sich für einenvernünftigen, überaus vorsichtigen Mann. Er konnte nicht fassen, wie er mit sechsundfünfzig, nachdem er die schlimmsten Turbulenzen
     heil überstanden hatte, so tödlich hatte reinrasseln können.
     
    Anton Kurbatow hatte einen total idiotischen Traum. Er träumte eigentlich selten, und seine Träume waren normalerweise irgendwie
     undeutlich, schwarzweiß und sinnlos. Wenn er aufwachte, hatte er sie bereits vergessen. Diesmal aber schreckte er mitten in
     der Nacht, in kalten Schweiß gebadet, auf. Neben ihm, den Mund halboffen und wie ein Kind eine Hand unter der Wange, schlief
     Olga tief und fest. Aus Galjas schicken Gemächern hatte er hierher umziehen müssen, in Olgas winzige Einzimmerwohnung. Galjas
     Beamtengatte war aus Stockholm zurück. Olga dagegen hatte keinen Ehemann. Zu ihr konnte er zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen
     und konnte bleiben, solange er wollte. Doch Anton bemühte sich, Olgas Gastfreundschaft nicht überzustrapazieren. Die alleinstehende,
     unabhängige Urologin Olga Tichonowa wünschte sich nichts so sehr, wie den gutaussehenden, leichtsinnigen Unternehmer Anton
     Kurbatow zu heiraten, der vier Jahre jünger war als sie und völlig untauglich für die Ehe.
    Klug und taktvoll, wie sie war, sprach Olga nie direkt von Heirat. Sie machte nur Andeutungen, sanft und subtil, wie nebenbei.
     Doch für den freiheitsliebenden Anton war das genug, um sich bei ihr möglichst selten blicken zu lassen und nie lange zu bleiben.
    Bemüht, Olga nicht zu wecken, schlüpfte er vorsichtig unter der Decke hervor, nahm ihren Frotteebademantel vom Stuhl und zog
     ihn über, ging in die Küche, schaltete die kleine Wandlampe mit dem Korbschirm ein, goß sich kaltes Wasser aus dem Wasserkocher
     in eine Tasse, leerte sie in einem Zug, setzte sich auf die breite Holzbank und zündete sich eine Zigarette an.
    Der idiotische Traum ging ihm nicht aus dem Sinn. Er hatte geträumt, er und Denis rannten durch die Prager Altstadt, durch
     vertraute Straßen. Das Laufen fiel ihnen schwer, die Beine waren wie aus Watte, doch sie wurden gejagt, von jemand Schrecklichem
     mit leeren schwarzen Augenhöhlen. Anton wollte schreien, um Hilfe rufen, brachte aber nur ein lautloses Krächzen heraus. Denis
     blieb zurück, stolperte dauernd und war schließlich verschwunden. Und zwar, wie es Anton im Traum schien, endgültig, für immer.
    »Quatsch, totaler Blödsinn«, sagte er laut und trat zum Fenster.
    Es wurde bereits hell. Von hier oben, vom zwölften Stock, wirkte alles klein, wie Spielzeug. Die kastenförmigen Neubauten
     erstreckten sich weit in die Ferne, in die Unendlichkeit, und im diffusen, dunstigen Morgenlicht wirkten sie gespenstisch,
     irreal, als habe jemand den Raum in akkurate Rechtecke geteilt, als seien dort in Wirklichkeit gar keine Häuser, gar keine
     Menschen, als sei das Ganze nur eine flache Schwarzweißzeichnung.
    Ein Zustand von Leere und Einsamkeit überkam Anton. Er erinnerte sich, wie er als Kind einmal allein für einen Monat nach
     Bulgarien fahren mußte, in ein Kinderferienheim am Schwarzen Meer. Denis hatte sich ein Bein gebrochen und lag in Prag im
     Krankenhaus. Anton hatte es ohne seinen Bruder im Ferienheim nicht gefallen. Er fühlte sich einsam und unwohl. Dort waren
     viele Kinder aus Rußland, aber er konnte sich mit niemandem so richtig anfreunden. Er verbrachte viele Stunden am hohen Zaun,
     das Gesicht zwischen die Metallstäbe gezwängt und den Blick auf das kleine Maisfeld gerichtet, das sich beiderseits der Landstraße
     erstreckte. Eines Tages rannte ein etwa sechsjähriger Junge die Landstraße entlang, dünn, klein, mit dunkelblondem Igelkopf.
     Anton rief: »Denis!« und wollte sich durch die Gitterstäbe zwängen. Der Junge kam näher, lachte und rief etwas auf bulgarisch.
    Das Gefühl hoffnungsloser Verwaisung blieb noch lange zurück. Irgendwo am Grunde seines Herzens spürte er es sein Leben lang.
     Längst erwachsen und unabhängig, wurde er, wenn er ernsthafte Unannehmlichkeiten hatte und sein Bruder nicht bei ihm war,
     für ein paar Augenblicke wieder zu dem Siebenjährigen, der das Gesicht zwischen die Gitterstäbe zwängte und auf das Maisfeld
     schaute.
    Er rauchte die Zigarette bis zum Filter herunter, ging fröstelnd zurück ins Zimmer,

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