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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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mit Käse und trank seinen Tee. Dann wusch er ordentlich seine Tasse
     ab, wischte mit einem feuchten Schwamm kaum sichtbare Flecke vom Herd und fegte den Boden.
    Sein Hang zu Ordnung und Sauberkeit hatte sich bereits in seiner Kindheit ausgeprägt. Mutter, Vater und Großmutter duldeten
     keinen Schmutz. Zweimal in der Woche veranstaltete die ganze Familie einen Großputz, dabei wurde jeder Winkel gründlich saubergemacht.
     Die Teppiche wurden mit feuchtem Teesatz gereinigt, die polierten Möbel mit einer speziellen Lösung. Die Wohnung war immer
     blitzsauber und hell – das behaglichste Zuhause der Welt.
    Was ein Zuhause wirklich bedeutet, begriff Wolodja erst richtig, als er zur Armee mußte. Er diente bei den Panzertruppen bei
     Woronesh. Er, der Moskauer Junge aus kultivierter Familie, bekam alle Gemeinheiten des Armeealltags zu spüren. Er wurde wie
     viele der Neuen von den Altgedienten gedemütigt, bekam Hautausschlag von Feuchtigkeit und Vitaminmangel. Er, der keine Schimpfworte
     ertrug, lebte in einer Atmosphäre obszöner, unflätiger Reden. Er, der Ordnungs- und Sauberkeitsfanatiker, schlief im Kasernenmief
     und ekelte sich vor seinem eigenen Körper, der mit gräßlichen Geschwüren bedeckt war. Dreimal saß er im Arrest, von einer
     Woche bis zu zehn Tagen. In diesem steinernen Verlies schlief man angezogen auf schmutzigen Strohsäcken, man konnte sich nicht
     waschen und sich nicht die Zähne putzen. Die Notdurft wurde gleich in der Zelle verrichtet, in einen stinkenden Eimer, vor
     aller Augen.
    Doch die schlimmste Prüfung für Wolodja waren Schmutz und Gemeinheit in den menschlichen Beziehungen, die sich in der Kaserne
     unverhohlen und schamlos offenbarten. Seine Eltern hatten ihm von klein auf beigebracht, daß der Mensch des Menschen Bruder
     sei, daß man nicht lügen dürfe, daß Habgier eine Schande sei und daß man gegen Grausamkeit und Ungerechtigkeit kämpfen müsse,
     selbst wenn man zurNiederlage verurteilt sei. Mutter, Vater und Großmutter hatten Wolodja eingeschärft: Das Kostbarste, was der Mensch besitzt,
     ist ein reines Gewissen und das Gefühl der eigenen Würde.
    In der Armee herrschten keine menschlichen Gesetze, sondern animalische. Woldodja biß die Zähne zusammen und hielt durch.
     Er bemühte sich, Mensch zu bleiben. Seine einzige Freude waren die Briefe von zu Hause. Er zählte die Tage bis zur Entlassung.
    Im Mai war es soweit. Er kaufte in Woronesh für Mutter und Großmutter je ein flauschiges Kopftuch, für Vater eine schöne Quarzuhr,
     dann rief er vom Telegrafenamt aus zu Hause an. Die Großmutter rief ach und oh, weinte und sagte, alle seien gesund, Mutter
     und Vater seien arbeiten, zu Hause sei alles in Ordnung.
    Am Sonnabend abend kam er in Moskau an.
    Sein Herz hämmerte freudig, als er das vertraute Haus betrat. Er war so aufgeregt, daß er nicht auf den Lift wartete, sondern
     wie der Blitz in den sechsten Stock hinaufrannte. In der Wohnung war alles still. Er klingelte lange. Der melodische Klang
     breitete sich in der Wohnung aus, doch niemand öffnete. Wolodja hatte keinen Schlüssel. Er lief die Treppe hinunter, schaute
     hinauf zu den Fenstern. In zwei Zimmern brannte Licht. Er ging wieder hinauf und klingelte bei den Nachbarn.
    Die Nachbarin erkannte Wolodja und erinnerte sich, daß sie Wolodjas Mutter am Freitagmorgen gesehen hatte, sie waren zusammen
     mit dem Lift gefahren.
    Wolodja rief von den Nachbarn aus die Miliz an. Er mußte dem Diensthabenden lange erklären, daß seine Familie an diesem Abend
     auf keinen Fall aus dem Haus gegangen sein konnte. Endlich kam eine Einsatzgruppe. Wolodja bestand darauf, daß sie die Tür
     aufbrachen …
    Vater und Mutter saßen auf Stühlen, mit breitem Klebeband umwickelt. Auch ihre Münder waren mit dem grauenglänzenden Klebeband zugeklebt. Ringsum war alles voller Blut. Die Körper waren bereits kalt.
    Die Großmutter lag im Nachthemd auf dem Bett. Sie war nicht gefesselt. Sie war einfach mit einem Kissen erstickt worden. Vater
     und Mutter hatte man die Kehle durchgeschnitten.
    In der Wohnung war alles auf den Kopf gestellt.
    Der medizinische Sachverständige erklärte, der Tod der drei Opfer sei bereits vorige Nacht eingetreten. Später stellte sich
     heraus, daß alles aus der Wohnung getragen worden war, was irgendwie von Wert war: der einheimische Farbfernseher, zwei Kristallvasen,
     ein Dutzend Silberlöffel und die antike goldene Taschenuhr, die Großmutter in der untersten Kommodenschublade

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