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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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unter der Wäsche
     versteckt hatte. Großmutter war das kleine goldene Kreuz abgenommen worden, das sie immer um den Hals trug, Mutter hatte man
     die Saphirrohrringe herausgerissen. Außerdem fehlte ein Ring, den Mutter in ihrer Jugend getragen hatte. Er war sehr schön,
     aber ohne jeden Wert. Das gelbe Metall imitierte perfekt helles Gold, der tiefgrüne Glasstein einen Smaragd.
    In der Küche stand auf dem Tisch neben dem Herd eine Schüssel mit Hefeteig, der über den Rand gequollen war und auf der sauberen
     Plastiktischplatte klebte. Das gab Wolodja den Rest. Er stellte sich vor, wie seine Großmutter am Abend zuvor den Teig angesetzt
     hatte, um Piroggen zu backen, mit Ei und Kohl, wie er sie am liebsten mochte.
    Ihm wurde schwindlig und schwarz vor den Augen. Er verlor das Bewußtsein.
    Zwei Wochen lag er im Krankenhaus, in der Neurologie. Dort suchten ihn die Kriminalisten und ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft
     auf.
    Nachdem Wolodja die drei Urnen beigesetzt hatte, tauschte er die vertraute Dreizimmerwohnung im Zentrum gegen eine Einzimmerwohnung
     am anderen Ende der Stadt. Von demGeld, das er durch den Tausch gewonnen hatte, kaufte er sich einen alten, aber soliden Moskwitsch.
    Er fing als Streckenarbeiter bei der Metro an, überwiegend ein Nachtjob. Die reichliche Freizeit verbrachte er auf Flohmärkten
     und in Antiquitätengeschäften mit Juwelierartikeln. Er saß in Bierbars und Restaurants, in denen seiner Vermutung nach Diebe
     und Hehler verkehrten.
    Mit seinem unauffälligem Äußeren – klein, ganze eins sechzig, schmale Schultern, dünn, hellblaue Augen, glattes, ein wenig
     fettiges, aschblondes Haar – war er in der Menge so gut wie unsichtbar.
    Wolodja belauschte Gespräche an allen möglichen anrüchigen Orten, um irgend etwas über die Einbrecherbande zu erfahren, die
     seine Familie getötet hatte. Er gestand sich selbst nicht ein, daß er versuchte, auf eigene Faust die Mörder zu finden. Er
     mußte einfach etwas tun gegen den Schmerz, der ihm die Kehle zuschnürte.
    Über die schreckliche Bande wurde in Zeitungen und in einigen Fernsehsendungen berichtet. Aber es gab keinerlei verwertbare
     Spuren. Die Täter hinterließen keine Zeugen.
    Allein in den sechs Monaten von Januar bis Mai waren neun Wohnungen in Moskau und fünf Einfamilienhäuser in der Umgebung ausgeraubt
     worden. Dabei wurden siebenundzwanzig Personen getötet, darunter drei Kinder zwischen drei und vierzehn Jahren.
    Wolodjas Angehörige waren die drei letzten Opfer. Die Einbruchsserie hörte auf. Die Bande hatte sich offenbar aufgelöst oder
     ihr Betätigungsfeld gewechselt. Doch keines ihrer Mitglieder war bislang verhaftet worden.
    Ein Jahr verging. Wolodja lebte zurückgezogen, er hatte keine Freunde und auch keine Freundinnen. Er hatte Angst, sich an
     jemanden zu binden, ein lebendiges Wesen liebzugewinnen, das jederzeit einer bösen Laune zum Opfer fallen und zu einem Haufen
     Asche werden konnte. Für Wolodja war die Welt erfüllt von Bösem und alles Lebendigehilflos. Das Böse triumphierte stets und kam ungestraft davon. Das Böse stellte sich ungeniert öffentlich zur Schau, im Fernsehen
     und in Zeitungen. Verbrecher, kriminelle Autoritäten und Profikiller wurden zu Superhelden. Jugendliche wollten ihnen nacheifern.
    Das Böse bereitete ihm geradezu physische Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen.
    Eines Tages entdeckte Wolodja in einem Antiquitätengeschäft auf dem Alten Arbat eine Taschenuhr. Er erkannte sie sofort. Er
     erinnerte sich genau an jedes Detail des Musters auf dem goldenen Deckel und an die zwei dunklen Risse auf dem Porzellanzifferblatt.
     Als Kind hatte er immer gestaunt, daß das Uhrwerk der alten Zwiebel noch funktionierte. Man brauchte nur das geriffelte Rädchen
     zu drehen, und die Uhr tickte wieder, maß wie vor hundert Jahren die Zeit. Das Rädchen hatte eine kleine Lücke.
    Er bat den Verkäufer, ihm die Uhr zu zeigen. Als er sie in die Hand nahm, schlug sein Herz schmerzhaft. Er rannte zu einem
     Telefon und rief bei der Staatsanwaltschaft an.
    »Wieso sind Sie so sicher, daß es wirklich diese Uhr ist?« fragte der zuständige Beamte.
    Wolodja beschrieb ausführlich alle Eigenheiten der Uhr.
    Nachforschungen ergaben, daß die Uhr von einer alleinstehenden alten Frau gebracht worden war, die in einer Gemeinschaftswohnung
     in einer Gasse am Arbat wohnte. Sie erklärte entschieden, sie habe die Uhr geerbt.
    »Überlegen Sie doch selbst«, sagte der Staatsanwalt zu Wolodja,

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