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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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rum.
    Wolodja spürte, daß er endlich auf eine heiße Spur gestoßen war. Doch dann passierte etwas Überraschendes: Der Besitzer des
     blauen Shiguli wurde verhaftet. Die Festnahme geschah direkt vor Wolodjas Augen, banal und alltäglich, ganz anders, als man
     es immer im Kino sah.
    Drei Monate später wurde Wolodja als Zeuge vor Gericht geladen. Inzwischen waren zwei weitere Mitglieder der Bande gefaßt
     worden.
    Die Verhandlungen dauerten endlos lange. Die Urteile für die drei Mörder erschienen Wolodja unerhört milde. Den Aussagen der
     Angeklagten entnahm er, daß der Kern des Bösen ein Mann war, den niemand je fassen würde. Nicht einmal die Bandenmitglieder
     wußten, wie ihr Anführer hieß. In den Verhandlungen tauchte er nur unter dem Spitznamen Skwosnjak auf.

Sechstes Kapitel
    Sein erstes Wort sagte Kolja Koslow mit vier Jahren. Nicht »Mama« oder »Papa«. Es war ein langes Wort und klang schön und
     bedrohlich: »Oligophrenie.«
    Niemand der Zöglinge des Säuglingsheimes sprach früher als mit vier. Auf zwanzig Kinder kam eine Betreuerin. Die jahrelange
     Überarbeitung und das lächerliche Gehalt für diese Schwerstarbeit machten die Schwestern hart. Selbst wenn sie irgendwo im
     Grunde ihres Herzens noch menschliches Mitleid mit den ewig schmutzigen, wundgelegenen und mit Ausschlag übersäten Kindern
     empfanden, spielte es in der täglichen Arbeit keine Rolle. Dafür fehlte die Zeit unddie Kraft. Die Schwestern erledigten ihre Arbeit schweigend und streng nach Plan. Kindergeschrei war für sie etwas so Gewohntes,
     daß sie es gar nicht mehr wahrnahmen.
    Ausnahmslos alle Kinder im Säuglingsheim waren in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Selbst diejenigen, die normal zur Welt
     gekommen waren, ohne Geburtsschäden oder Erbfehler.
    Mit einem Baby muß man reden, muß ihm Lieder vorsingen, es auf den Arm nehmen, über den Kopf streicheln, ihm zärtliche Worte
     ins Ohr flüstern. Aber bei einer Schwester für zwanzig Kinder ist das unmöglich.
    Mit einem Jahr waren die gesunden Kinder kaum noch von den kranken zu unterscheiden. Die Ärzte verpaßten ihnen ohne die geringsten
     Gewissensbisse die Diagnose »Oligophrenie im Stadium der Debilität«. Nicht aus Bosheit, nein. Aber in Sonderkinderheimen für
     geistig zurückgebliebene Kinder bekamen die Pädagogen einen anständigen Zuschlag gezahlt. Folglich arbeiteten sie in solchen
     Heimen lieber, und davon gab es auch mehr als Heime für gesunde Kinder. Da hatte man weniger Probleme mit der Erziehung. Die
     Kinder mußten entsprechend ihrer medizinischen Diagnose behandelt werden. In der Regel mit starken Psychopharmaka. Wurde ein
     geistig zurückgebliebenes Kind aggressiv und unkontrollierbar, konnte man es jederzeit in die Psychiatrie stecken, wo es dann
     Spritzen bekam.
    Die ältere Kinderpsychiaterin zögerte ein wenig, bevor sie dem vierjährigen Kolja Koslow die stereotype Diagnose in die Akte
     schrieb. Er war ein hübscher Junge, hatte ein rundliches Gesicht und lebhafte kluge Augen. Im Gegensatz zu den meisten seiner
     Altersgenossen im Heim konnte er, seit er zwei war, allein auf den Topf gehen, essen, ohne zu kleckern, und zeigte auch sonst
     keinerlei Anzeichen geistiger Zurückgebliebenheit.
    »Wie heißt du denn, Kleiner?« fragte die Ärztin freundlich.
    Er sah sie schräg von unten an und lächelte.
    »Wie heißt du? Na? Sag mal: Kol-ja. Sprich mir nach: Kolja.«
    Er schwieg und lächelte.
    »Na schön.« Die Ärztin seufzte. »Spielen wir ein bißchen mit Bauklötzen. Was für eine Farbe hat dieser Bauklotz? Rot?«
    Der Junge nahm ihr wortlos den grünen Plastikbaustein aus der Hand, holte damit aus und hieb eine Ecke gegen die teure Brille
     der Ärztin. Sie zuckte überrascht mit dem Kopf, die Brille fiel zu Boden, zerbrach aber nicht. Blitzartig sprang der Junge
     vom Stuhl und zertrat mit der harten Sohle seiner staatseigenen Sandale die Brillengläser, zermalmte sie auf dem Boden, als
     wären sie ein widerliches Insekt. Dabei wich das durchaus bewußte, ruhige Lächeln die ganze Zeit nicht von seinem Gesicht.
     Er sah der Ärztin in die Augen. Er schien neugierig und mit Freude ihre Reaktion zu beobachten.
    »So, na, hier ist wohl alles klar«, sagte die Ärztin, während sie vom Boden aufsammelte, was noch vor kurzem ihre Brille gewesen
     war. »Eine typische oligophrene Aggression.«
    Sie wickelte das Brillengestell sorgfältig in ein sauberes Taschentuch, steckte es in die Tasche ihres schneeweißen Kittels
    

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