Keiner wird weinen
und schrieb nun mit sicherer Hand in Kolja Koslows Akte: Diagnose: Oligophrenie im Stadium der Debilität. Sie hatte die Angewohnheit,
laut auszusprechen, was sie schrieb.
»Oligophrenie«, wiederholte der Junge langsam und deutlich.
Die Ärztin zuckte heftig zusammen und starrte das stumme kleine Biest aus kurzsichtigen Augen an. Kolja Koslow sah sie gelassen,
irgendwie prüfend an, nun ohne jedes Lächeln. Und sagte kein einziges Wort mehr.
Fest verankerte sich in seinem kindlichen Gedächtnis dieintensive, brennende Freude, die er empfunden hatte, als sich im Gesicht der großen, wichtigen Tante im weißen Kittel plötzlich
Entsetzen und Verwirrung gespiegelt hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte nichts je einen solchen Sturm von Emotionen in ihm
ausgelöst. Er begriff damals nicht, daß er für dieses Vergnügen mit einer lebenslangen Verurteilung bezahlt hatte. Für den
Vierjährigen war das Wort »Oligophrenie« lediglich eine bizarre, klangvolle Lautverbindung.
Das Leben im Kinderheim war äußerst arm an Eindrücken und erst recht an Freuden. Das allen gehörende Spielzeug machte keine
Freude. Es gehörte allen, also nicht dir. Das Essen schenkte für eine Weile ein angenehmes, warmes Gefühl von Sattheit, doch
Freude konnte man auch das nicht nennen. Von seinen ersten Lebensjahren behielt Kolja allein den Chlorgeruch, die weißen Kittel
der Schwestern und die kahlgeschorenen Köpfe der Nachbarn hinter den Gitterstäben der Heimbetten in Erinnerung.
Im Sonderkinderheim waren rund die Hälfte der Erstkläßler Waisen. Die übrigen waren »Hauskinder«, quasi nur halb verlassen.
Zwar holten längst nicht alle Eltern ihre Kinder zu Feiertagen oder in den Ferien nach Hause, dennoch bildeten Hauskinder
und Heimkinder zwei verschiedene Kasten.
Bei den meisten Hauskindern waren die Eltern Alkoholiker, zu Hause war ihr Leben noch unerträglicher als im Heim. Sie kehrten
mit Beulen und blauen Flecken von dort zurück und stürzten sich gierig auf das Heimessen. Dennoch galten sie als Kinder erster
Klasse.
Hier nun wurde Kolja Koslow seine absolute angeborene Einsamkeit in vollem Ausmaß bewußt. Er hatte nie eine Mutter gehabt,
gar keine, nicht einmal eine, die ständig betrunken war. Überhaupt keine. Niemand auf der ganzen Welt scherte sich um ihn.
Und er begann die Hauskinder, die Günstlinge des Schicksals, glühend zu hassen.
Die Waisen nannten jede erwachsene Frau Mama – Erzieherinnen, Betreuerinnen, Putzfrauen, Krankenschwestern. Sie blickten jeder
bittend in die Augen und fragten vorsichtig: »Bist du meine Mama?«
»Nein«, bekamen sie zur Antwort.
»Und wo ist meine Mama?« fragte dann mit einfältiger List das Kind, das genau wußte, wie die Antwort lauten würde.
»Du hast keine Mama. Dich zieht der Staat groß.«
Kolja nannte niemanden Mama und stellte keine dummen Fragen. Tat ein anderer das in seinem Beisein, widerte ihn das an, zugleich
aber spürte er seine Überlegenheit. Er würde nie um ein freundliches Wort betteln, er war nicht darauf angewiesen, daß ihm
jemand aus Mitleid über den Kopf strich.
Die Heimzöglinge bekamen jeden Tag zur Prophylaxe Tabletten verabreicht, die langsam, aber sicher das Hirn schädigten. Es
hieß, diese medikamentöse Behandlung sei unerläßlich, andernfalls würden die Kinder aggressiv und unkontrollierbar.
Kolja war sofort klar, daß er die Tabletten nicht nehmen durfte. Über die Psychiatrie und die Spritzen wurden nachts im dunklen
Schlafsaal Schauergeschichten erzählt, die Tabletten aber galten als harmlos. Doch Kolja nahm sie nicht, als einziger, obwohl
er selbst noch nicht genau wußte, warum nicht. Er lernte, die Tabletten so in seiner Wange zu verstecken, daß nicht einmal
die wachsame Krankenschwester etwas bemerkte, wenn sie ihm in den Mund schaute. Er spuckte die Tablette heimlich wieder aus,
warf sie weg und spülte sich anschließend gründlich den Mund. Sein Gefühl sagte ihm, daß keiner seiner Altersgenossen davon
wissen durfte. Sie würden es der Krankenschwester oder den Erzieherinnen petzen.
Kolja hatte von Geburt einen starken Selbsterhaltungstrieb mitbekommen, nicht nur physisch, sondern auch intellektuell. Er
spürte: Um zu überleben, mußte er klug sein,er durfte nicht debil werden. Doch genau das schienen alle um ihn herum erreichen zu wollen.
Die Kinder wollten, daß er so war wie sie. Es ärgerte sie, daß er klüger war. Für die Erwachsenen war es bequemer, wenn er
blöd
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