Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
und folgsam war. Sie alle waren seine Feinde. Sie wollten ihm alle Böses. Aber er war stark und klug, er mußte sie überlisten
     und besiegen.
     
    Die geistig zurückgebliebenen Kinder wurden nicht sonderlich sorgfältig unterrichtet. Sie bekamen Lehrbücher für Hilfsschulen.
     Kolja lernte nach einem solchen Buch in zwei Wochen alle Buchstaben. Nach einem Monat konnte er silbenweise lesen. Nach zwei
     Monaten hatte er die ganze Fibel von A bis Z durch. Im Unterricht war er immer der Beste. Doch niemand war darüber erstaunt
     oder gar erfreut.
    In der dritten Klasse sagte er einmal laut, nachdem er die Aufgabe an der Tafel gelesen hatte: »Pah, lächerlich! Das kriegt
     doch jeder Idiot raus.«
    »Ach was, du bist wohl der Klügste, Koslow, ja?« erkundigte sich die Lehrerin träge.
    »Ja«, erwiderte er schlicht, »hier bin ich der Klügste.«
    Die Lehrerin tobte und stellte ihn in die Ecke. Die ganze Stunde lang lästerte die Klasse grob über den »klügsten Oligophrenen«.
     Als ein Hauskind anregte, dem Klugen die Fresse zu polieren, verließ Kolja seelenruhig seine Ecke, ging zu dem Mädchen, schlug
     ihre Nase heftig auf die Schulbank und kehrte zurück in seine Ecke. Dabei empfand er eine ebenso glühende Freude wie damals
     im Kinderheim, als er die Brille der Ärztin zerstampft hatte. Doch bald sollte er erfahren, was der Preis für einen solchen
     kurzen Genuß war.
    Die Lehrerin schleifte ihn am Kragen in den Schlafsaal, warf ihn aufs Bett und ging die Krankenschwester holen. Kolja machte
     es sich auf dem Bett bequem und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
    Er mußte nicht lange warten. Nach ein paar Minuten kamen eine Erzieherin und die Krankenschwester herein.
    »Koslow«, sagte die Erzieherin, »du wirst bestraft. Du darfst heute nicht raus. Steh auf.«
    Das ist alles, freute sich Kolja. Pah, Kleinigkeit!
    Er dachte nicht daran, aufzustehen, er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
    »Steh auf, Koslow«, wiederholte die Erzieherin.
    Er blieb liegen, bequem auf dem Bett ausgestreckt. Die Krankenschwester beugte sich wortlos zu ihm hinunter, knöpfte ihm die
     Hose auf und zog sie herunter. Da begriff er, daß sie ihn gleich nackt ausziehen und ihm alle Kleider wegnehmen würden.
    Es hatte geklingelt, neugierige Klassenkameraden schauten in den Schlafsaal. Kolja trat mit beiden Beinen die Krankenschwester
     in den weichen Bauch. Gleichzeitig schlug er der Erzieherin die Faust ins Gesicht. Die beiden Frauen waren fassungslos vor
     Schmerz und Überraschung. Er zog sich die Hose wieder hoch, sprang auf die Füße und rannte aus dem Schlafsaal, wobei er die
     sich an der Tür drängenden Kinder beiseite schubste.
    »Koslow!« schrie ihm ein Klassenkamerad nach. »Wenn sie dich kriegen, bringen sie dich in die Psychiatrie!«
    Egal, dachte er und rannte über den Flur, daß es in seinen Ohren pfiff. Von mir aus in die Psychiatrie! Hauptsache, nicht
     vor den anderen nackt ausziehen! Was Schlimmeres gibt’s nicht.
    Schon bald sollte er begreifen, daß er sich irrte. Es gab bedeutend Schlimmeres.
    Der Erzieher der älteren Klassen, ein großer, kräftiger Mann, schnitt ihm bereits den Weg ab. Von unten kam polternd der Hausmeister
     Makarytsch die Treppe heraufgerannt. Kolja wußte, daß es sinnlos war, sich zu wehren, trotzdem strampelte er mit den Beinen.
     Als sie ihn gefaßt hatten, biß er Makarytsch sogar in den Finger, daß er blutete.
    Zwanzig Minuten später lag er, mit Lederriemen an eine Trage gefesselt, im Krankenwagen der Kinderpsychiatrie, noch immer
     zappelnd, strampelnd und Ärztin und Sanitäter wüst beschimpfend.
    »Hör auf zu schreien, sonst kriegst du eine Spritze«, warnte ihn die Ärztin.
    »Bitte sehr! Ich hab keine Angst!«
    »Du hast keine Angst?« Die Ärztin lacht ungut. »Los, Wassili, gib ihm zwanzig Milligramm Aminazin.«
    Der Sanitäter zog wortlos eine Spritze auf, drückte die Luft heraus, drehte Kolja geschickt auf die Seite, zog ihm die Hose
     herunter, desinfizierte eine Stelle am Bein mit einem getränkten Wattebausch und jagte ihm rasch die Nadel hinein.
    Es tat weh, aber nicht sehr. Zuerst spürte er überhaupt nichts. Dann wurde ihm schwindlig, der Mund wurde trocken, und eine
     widerliche schweißige Mattigkeit erfaßte den ganzen Körper, vor allem Arme und Beine.
    Nein, das ist keine Kleinigkeit, dachte er, während er versuchte, die scheußlichen Empfindungen zu überwinden, jetzt verstehe
     ich, wovor alle solche Angst haben. Das ist hundertmal schlimmer

Weitere Kostenlose Bücher