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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Kammer, in der die Putzfrau ihren Kram aufbewahrte. Diesen Schlüssel hütete er eifersüchtig
     und versteckte ihn immer wieder woanders.
    Im Heim, wo im Schlafsaal in dicht an dicht stehenden Betten zwanzig Jungen schliefen, war Alleinsein ein unerreichbarer Luxus.
     Allerdings verspürte auch niemand außer Kolja Koslow ein Bedürfnis danach.
    Es war tiefe Nacht, er verkroch sich in der Kammer und schloß sich ein. Ohne Licht zu machen, preßte er die vierfach gefaltete
     Heftseite in den Händen und weinte bitterlich.
    »Ich werde das Miststück finden und umbringen«, flüsterte er, »ich finde sie und bringe sie um.«
    Doch er glaubte sich selbst nicht. Zum erstenmal im Leben fand er sich in seinen Gefühlen nicht zurecht. Plötzlichschien ihm, daß er sich nichts auf der Welt so sehr wünschte, wie diese Julia Lukjanenko zu sehen, die ihn neun Monate im
     Bauch getragen hatte. Er stellte sie sich als unglaubliche, märchenhafte Schönheit vor. Und er erfand sofort alle möglichen
     Rechtfertigungen für ihr Handeln. Man hatte sie gezwungen, die gemeine Erklärung zu schreiben. Zwei Wochen lang hatte sie
     sich geweigert, hatte immer wieder gesagt: »Laßt mir meinen Sohn …« Man hatte sie gefoltert, geschlagen, und schließlich hatte
     sie es nicht mehr ausgehalten und nachgegeben.
    Hinterher hatte sie nach ihm gesucht, aber hartherzige Bösewichte hatten ihn ins Waisenhaus gesperrt. Nun weinte sie nachts
     und dachte an ihn. Sie dachte unentwegt an ihn. Eines Tages würden sie sich begegnen und einander sofort erkennen.
    Er ertappte sich dabei, daß er schon wurde wie die anderen Waisenkinder. Sie erfanden süße Märchen über ihre wunderschönen,
     unglücklichen Mamas und glaubten sogar daran. Wollte er wirklich genauso werden?
    Die Tränen waren getrocknet. Er würde nie wieder weinen. Weswegen? Wen sollte er bedauern? Das Miststück, das ihn verlassen
     hatte, als er klein und hilflos war? Die ganze Welt bestand aus solchen Miststücken und Schweinen. Hassen, zertreten, vernichten,
     stark und hart werden … So wie man mit ihm als Baby kein Mitleid gehabt hatte, so würde auch er mit niemandem Mitleid haben.
     Er würde groß und stark werden und es ihnen allen zeigen.
    Nur für einen Menschen empfand er keinen Haß, für Onkel Sachar. Aber auch noch keine wirkliche Zuneigung. Kolja ließ nichts
     Warmes, Lebendiges in seine vereisende Seele. Er fürchtete, sich weh zu tun. Wer weiß, vielleicht würde der nette Onkel den
     kleinen Skwosnjak auch nur »eine Stunde lang« liebhaben?

Neuntes Kapitel
    »Das ist kein Sommer, das ist ein richtiger Atomwinter«, sagte Tanja Sokownina, die in einer grauen Wildlederjacke, über die
     sie obendrein noch ein riesiges Wolltuch von Veras Mutter geworfen hatte, in Veras Küche saß.
    »Der Sommer hat noch gar nicht angefangen, es ist erst Ende Mai.« Vera goß sich und ihrer Freundin Tee ein. »Und wir beide
     müssen sowieso bis August in Moskau hocken. Du wirst ja deine Dissertation kaum auf der Datscha zu Ende schreiben wollen.
     Wenn es kalt ist, tut es einem wenigstens nicht so leid, daß man den Sommer versäumt.«
    »Na, ich weiß nicht.« Tanja seufzte. »Bei dieser Kälte kann ich nicht leben, geschweige denn arbeiten. Ich sitze den ganzen
     Tag am Computer und habe drei Pullover übereinander, wie eine Zwiebel. Das warme Wasser ist bis Juli abgestellt, man kann
     zum Aufwärmen nicht einmal ein heißes Bad nehmen. Apropos – habt ihr warmes Wasser?«
    »Nein, das haben sie bei uns auch abgestellt.«
    »Na bitte.« Tanja seufzte erneut. »Ich hatte so gehofft, bei dir mal wieder richtig duschen zu können. Ich hab’s satt, immer
     mit Töpfen und Schöpfkellen zu hantieren. Überhaupt ist alles scheußlich, Vera. Die Wohnung ist der reinste Schweinestall,
     es ist kein Geld da, und, wie meine weise Schwiegermutter immer sagt, alles tropft und fließt, aber nichts verändert sich.
     Kein einziger Wasserhahn, kein einziger Hocker im Haus ist noch ganz. Und ich schreibe an meiner Dissertation …«
    »Aber Hocker und Wasserhähne sind doch Männersache«, bemerkte Vera, »damit hast du nichts zu tun. Darum sollte sich Nikita
     kümmern.«
    »Kannst du dir meinen Nikita mit einem Schraubenzieher in der Hand vorstellen?« Tanja lacht spöttisch. »Ach, alles Quatsch.
     Ich hab einfach Depressionen, eine Schaffenskrise. Weißt du, diese englischen Schafe machen mich total fertig.«
    »Welche Schafe?« fragte Vera verständnislos.
    »Na, die aus dem

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