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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Foto des »russischen Bären« blieb in einem Schubfach zwischen Papieren liegen.
    Aber sie hatten ihn dennoch gefunden. Diejenigen, die übriggeblieben waren, hatten Denis ein Jahr lang gesucht, nichts in
     der Hand als Fotos, en face und im Profil. Sie hatten ihn gefunden und getötet. In Prag. Wer sonst, wenn nicht sie? Ein flammender
     Gruß von der Schwedin Karolina. Sielebte vielleicht gar nicht mehr. Aber die Kugel hatte Denis erreicht.
    Anton fiel der »russische Bär« ein, und er überlegte, daß er nach Hause fahren sollte, das Foto suchen. Das könnte hilfreich
     sein. Zwar hatte ein schnurrbärtiger Türke auf Denis geschossen, aber wer weiß? Womöglich hatte der »russische Iwan« auch
     etwas damit zu tun.
     
    »Was ist, bist du eingeschlafen?« Olgas Stimme schien von weither zu kommen, obwohl sie direkt neben ihm stand. »Willst du
     die Kartoffeln gekocht oder gebraten?«
    »Wie? Was?« Er schreckte auf wie aus einer tiefen Ohnmacht. »Wieso Kartoffeln?«
    Olga nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm in die Augen.
    »Es wird noch lange weh tun«, sagte sie leise, »aber du mußt weiterleben, Anton. Deinen Bruder holst du nicht zurück.«

Achtes Kapitel
    Die gestrenge, unnahbare Direktorin des Sonderkinderheims hielt Wort und nahm Skwosnjak am Wochenende mit zu sich nach Hause.
     Der Zehnjährige war zum erstenmal in einer richtigen Wohnung.
    Die Direktorin hatte zwei Zimmer in einer kleinen Gemeinschaftswohnung. Sie lebte mit ihrer alten Mutter zusammen, hatte weder
     Mann noch Kinder.
    Die beiden Zimmer mit den schönen Möbeln kamen Kolja riesengroß vor. Überall standen kleine Vasen, Schälchen und Statuetten,
     lagen Deckchen. Am besten gefiel ihm eine große chinesische Porzellanfigur, die heftig mit dem Kopf nickte, wenn man sie berührte.
    Die Mutter der Direktorin, ebenso stämmig und breitschultrig wie diese, aber mit dunklem Schnurrbart über derOberlippe, nannte Kolja »Jungchen«. Sie roch aus dem Mund nach Medizin. Durch die dicken Brillengläser verfolgten ihre Augen,
     die ebenso blaßblau waren wie die ihrer Tochter, jede Bewegung von Kolja, damit der Waisenjunge mit dem hübschen klugen Gesicht
     nicht unversehens etwas stahl.
    Er benahm sich mustergültig: Sprach höflich, stürzte sich beim Abendbrot nicht gierig auf Käse, Räucherwurst, Tomaten und
     die übrigen phantastischen Leckerbissen. Er aß gemächlich und ordentlich, obwohl ihm niemand beigebracht hatte, daß man sich
     keine großen Bissen in den Mund stopfte, sich die Hände nicht an der Hose abwischte und nicht rülpste.
    Er aß wenig, genausoviel wie seine Gastgeberinnen, tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab und sagte: »Danke.
     Es hat sehr gut geschmeckt. Wenn Sie möchten, spüle ich das Geschirr.«
    Die Alte gackerte gerührt, doch die Direktorin sagte lächelnd: »Das ist nicht nötig, Kolja. Danke. Geh ins Bad und wasch dich.
     Hier hast du ein sauberes Handtuch. Mit dem Geschirr werden wir schon allein fertig.«
    Es gefiel ihm, daß Bad und Toilette getrennt waren. Im Heim wuschen sich zehn, fünfzehn Jungen gleichzeitig in einem riesigen
     gefliesten Raum mit einem Dutzend rostiger Duschen, die aus der Decke ragten – es gab nicht einmal Trennwände. Auch die Toilette
     war offen, ohne Kabinen. Die Notdurft wurde ungeniert öffentlich verrichtet. Hier aber konnte man sich einschließen.
    Er lag lange wach. Die Frauen hatten ihm auf dem quietschenden Sofa im Zimmer der Mutter das Bett gemacht. Unter dem sägenden
     Schnarchen der Alten und dem Ticken der Wanduhr wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Hin und wieder fiel er in unruhigen
     Halbschlaf – er sah sich aufstehen, auf Zehenspitzen zum Bett der Alten schleichen und ihr ein Kissen aufs Gesicht drücken.
     Anschließend fegte er die hübschen Nippes in das große bestickte Tischtuch.Den kopfnickenden Chinesen wickelte er einzeln ein, damit er nicht kaputtging.
    Selbst im Traum wußte er: Nichts davon wird geschehen. Das durfte er nicht. Nicht weil er Mitleid hatte mit der Alten, sondern
     weil sie ihn sofort erwischen und in die Psychiatrie oder ins Straflager für Kinder stecken würden. Außerdem – wohin sollte
     er gehen mit dem Tischtuch voller Schätze?
    Die Alte stöhnte und drehte sich schwer auf die andere Seite. Der Junge stand auf und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
    »Wo willst du hin, Jungchen?« fragte die Alte.
    Sie hatte offenbar einen leichten Schlaf. Oder sie hatte gar nicht geschlafen, sondern

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