Keiner wird weinen
nur so getan.
»Ich muß mal«, flüsterte er.
Im Flur war alles still. Dann entdeckte er einen Lichtstreif unter der Küchentür. Vorsichtig öffnete er sie. In der großen
Gemeinschaftsküche saß ein Mann in blauen Satinunterhosen nachdenklich rauchend auf einem Hocker.
»Komm rein, Junge, genier dich nicht.« Er nickte aufmunternd, als er die kleine Gestalt an der Tür entdeckte.
Kolja trat ein, schloß leise die Tür und starrte den Mann an. Sein mächtiger muskulöser Körper war mit schönen blauen Bildern
bedeckt: Kirchenkuppeln mit Kreuzen, vollbusige Nixen, bizarre Adler, Schädel, Messer und verschlungene Schlangen. Auf die
dicken, behaarten Finger waren breite Ringe gemalt.
»Wie heißt du denn?«
»Kolja.«
Der Mann reichte ihm seine gewaltige Pranke.
»Na dann, machen wir uns bekannt. Ich bin Onkel Sachar.« Er drückte die magere Kinderhand fest. »Bist du hier zu Besuch?«
»Ich bin aus dem Heim. Galina Georgijewna, die Direktorin, hat mich übers Wochenende mitgenommen.« Skwosnjakfühlte sich kein bißchen gehemmt, während er mit dem riesigen bemalten Mann sprach.
»Aus dem Heim also.« Sachar seufzte, zerdrückte die bis aufs Papier heruntergerauchte Papirossa in einer Sardinendose, klopfte
gleich die nächste Papirossa aus der Schachtel, blies hinein, schlug sie ein paarmal auf den Tisch und riß ein Streichholz
an. »Und wieso bist du in einem Heim für Idioten?«
Ein breites, goldzahniges Lächeln und ein fröhliches Zwinkern milderten die beleidigende Frage ab.
Kolja zuckte nur schweigend die Achseln.
»Du siehst nicht aus wie ein Idiot. So was merke ich sofort. Setz dich doch, steh nicht so rum. Erzähl mir mal, womit du dir
solche Lorbeeren verdient hast. Deine Direktorin hat noch nie jemanden von euch mit nach Hause genommen.«
Er zwinkerte Kolja noch einmal zu, und dem wurde gleich ganz leicht und froh zumute. Er setzte sich dem Mann gegenüber auf
einen schäbigen dreibeinigen Hocker.
»Ich hab einen Debilen vom Dach runtergeholt«, sagte er bescheiden.
»Warum?« fragte Sachar ernst.
Er sah Kolja aus leicht zusammengekniffenen Augen an, und von diesem schweren, klugen Blick wurde Kolja zugleich heiter und
mulmig ums Herz. Ein anderer Erwachsener an seiner Stelle hätte gesagt: Prima, du bist ein Held, aber bei dem hier brauchte
er sich nicht zu verstellen wie sonst. Oder er mußte sich sehr geschickt verstellen, und das konnte er noch nicht.
»Damit die Direktorin nicht ins Gefängnis kommt«, antwortete der Junge und sah Sachar fest in die Augen.
»Interessant.« Sachar schüttelte den Kopf. »Sehr interessant. Was hast du denn davon, daß sie nicht ins Gefängnis kommt? Ist
sie etwa deine Mama? Sie ist doch bestimmt böse und gemein, oder?« Wieder zwinkerte er fröhlich.
»Sie ist bei uns die Oberste«, erwiderte Skwosnjak leise.
Mehr erklärte er nicht. Wenn dieser Onkel so klug war, dann würde er es schon verstehen. Und wenn nicht, dann eben nicht.
»Die Oberste, sagst du? Und du hast sie vorm Gefängnis bewahrt?« Sachar lachte leise, fast lautlos. »Und nun steht sie sozusagen
in deiner Schuld. Ihr Leben lang … Du bist ja ein interessanter Bursche. Wie alt?«
»Zehn.«
»Aber wie bist du denn zu den Idioten gekommen?«
»Wegen meiner Diagnose.« Kolja zuckte die Achseln.
»Nämlich?«
»Oligophrenie im Stadium der Debilität«, erklärte der Junge gelassen.
Sachar stieß einen Piff aus und schüttelte den Kopf.
»Welches Schwein hat dir diesen Stempel verpaßt?«
»Die Doktorsche. Im Kinderheim. Da war ich vier. Ich hab ihr die Brille von der Visage gehauen.«
»Kannst du dich daran selber erinnern oder hat dir das jemand erzählt?«
»Ich erinnere mich daran.«
»Erinnerst du dich auch an deine Mama?« Eine gewaltige Pranke legte sich auf Koljas Schulter.
»Ich hatte keine. Nie. Ich bin allein.«
»Na, das gibt es nicht, sagen wir mal … Daß du dich nicht daran erinnerst, steht auf einem anderen Blatt. Aber eine Mama hast
du auf jeden Fall gehabt«, erklärte ihm Sachar ernst.
»Wissen Sie das ganz genau?« fragte der Junge leise.
Sachar antwortete nicht, zauste ihm nur zärtlich den Kopf.
Am nächsten Morgen bereute Galina Georgijewna ihre gute Tat bereits. Nein, nein, Kolja Koslow benahm sich mustergültig, aber
seine Gegenwart hinderte sie, ihren üblichen Sonntagsbeschäftigungen nachzugehen. Eigentlich müßtesie mit dem Jungen ins Kino oder irgendwo anders hin, ihm ein Eis kaufen. Aber sie hatte
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